© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 19/06 05. Mai 2006

Revolutionär wie Eisenstein
Dem Kino zog er das Leben vor: Roberto Rossellini, Vater des Neorealismus
Martin Lichtmesz

Roberto Rossellini, dessen Geburtstag sich am 8. Mai zum hundertsten Male jährt, hat nie ein makelloses Meisterwerk gedreht. Dennoch hat er die Filmkunst mindestens so nachhaltig revolutioniert wie Eisenstein, und sein Einfluß erstreckt sich bis zu den von Lars von Trier initiierten "Dogma"-Filmen. Neben Luchino Visconti und Vittorio de Sica war Rossellini der Gründervater des "neorealistischen" Stils, der für das italienische Kino nach 1945 prägend wurde. Fellini, Antonioni, Pasolini, Bertolucci - sie alle sind undenkbar ohne jene cineastische Bewegung, die mit de Sicas "Fahrraddiebe" (1948) ihren internationalen Siegeszug antrat.

Rossellini, der aus wohlhabendem Hause stammte, verbrachte seine Jugend als dandyhafter Playboy, bis er schließlich nach dem Bankrott seiner Familie erste Arbeiten in der Filmindustrie übernahm. Sein Spielfilmdebüt "La Nave Bianca"( 1941) stand wie auch seine nächsten beiden Arbeiten im Dienst der faschistischen Propaganda, ein Umstand, der angesichts des ersten "richtigen" Rossellini-Films, "Rom, offene Stadt" mit Anna Magnani, eine besondere Pointe aufweist.

Der bereits im Januar 1945 begonnene, unter schwierigsten Bedingungen gedrehte Film begründete den Mythos der Geburt des Neorealismus aus dem Geiste des Antifaschismus. Das hatte nicht allein mit der explizit antifaschistischen Handlung zu tun, die um den Kampf italienischer Widerständler gegen die deutschen Besatzer kreist, sondern auch mit der Deutung des neorealistischen Stils als ästhetischem Gegenentwurf zu dem unter Mussolini favorisierten "Kino der weißen Telephone", das von Kitsch, falschem Pathos und eskapistischem Melodrama gekennzeichnet war.

Neorealismus stand für die Hinwendung zum Leben der einfachen Leute, zum proletarischen und kleinbürgerlichen Milieu, die Filme wurden an Originalschauplätzen gedreht und häufig mit Laiendarstellern besetzt.

Tatsächlich war die Keimzelle dieser neuen Ästhetik bereits Anfang der vierziger Jahre im Umkreis der Zeitschrift Cinema entstanden, die von Mussolinis Sohn Vittorio herausgegeben wurde. Dieser hatte, wie der Regisseur Carlo Lizzani berichtete, "einige Kampagnen angeführt, die eine Wende des italienischen Films hin zu mehr Authentizität, zu einer deutlicheren Nähe zur Wirklichkeit der Bevölkerung des Landes bewirken sollte". Schon "La Nave Bianca" wurde mit Laien gedreht, und 1942 entstand mit Viscontis "Ossessione" eine frühe Vorahnung des neuen Stils.

Rossellini, der kaum zwei Jahre zuvor die Geschichte eines heldenhaften pro-faschistischen Priesters an der Ostfront gedreht hatte, thematisierte in "Rom, offene Stadt" nun das Schicksal eines Priesters, der als Märtyrer von den Deutschen hingerichtet wird. Der gleichsam in den noch rauchenden Trümmern des Krieges improvisierte Film, ein einmaliges Zusammentreffen von Geschichte und Kino, löste international geradezu einen Schock aus. "Rom, offene Stadt" war aber auch das cineastische Pendant zum antifaschistischen Gründungsmythos des neuen Italien. Dank Rossellinis Film war das vom Faschismus beschmutzte Land in den Augen der Weltöffentlichkeit reingewaschen.

Das Kriegsende war auch Sujet seines zweiten Nachkriegsfilms "Paisà" (1946), der in sechs mitreißenden Episoden die Befreiung Italiens durch die Alliierten behandelte. Der eine bisher ungekannte Authentizität in das Kino einführende Film trägt wie auch "Rom, offene Stadt" unverkennbar antideutsche Züge. Die Deutschen sind in beiden Filmen durchweg als arrogante, effeminierte Sadisten oder gnadenlose Schlächter dargestellt. Als Rossellini 1954 in Deutschland drehte, schrieb ihm ein SPD (!)-Abgeordneter mit einer heute verblüffenden Standfestigkeit: "Wer die niederträchtigen Tendenzen Ihrer Filme 'Rom, offene Stadt' und 'Paisà' kennt, wundert sich, daß Sie den Mut aufbringen, Italien zu verlassen und in Deutschland als Ihrem Gastland Filme zu drehen ..." Offenbar wußte der Abgeordnete nicht, daß Rossellini 1947 in den Ruinen Berlins mit deutschen Laien "Deutschland im Jahre Null" gedreht hatte, einen heute noch faszinierenden Film, der großes Mitgefühl mit der notleidenden Zivilbevölkerung zeigte. 1949 machte Rossellinis Skandalaffäre mit Ingrid Bergman Schlagzeilen, die dem Hollywood-Ruhm entsagte, um mit dem italienischen Außenseiter einige der ungewöhnlichsten Filme überhaupt zu drehen: "Stromboli" (1949), "Europa 51" (1951) und "Die Reise nach Italien" (1953).

Doch Rossellinis internationale Erfolgssträhne war vorbei: Die Filme, ebenso wie sein vielleicht schönstes Werk "Franziskus, der Gaukler Gottes" (1950), floppten allesamt, wurden aber von einer Gruppe junger französischer Cineasten begeistert rezipiert, die später zu den Begründern der Nouvelle Vague gehören sollten - unter ihnen François Truffaut, der Rossellini einige Jahre als Assistent begleitete, und den rastlosen Regisseur folgendermaßen charakterisierte: "Rossellini liebt das Kino nicht, auch nicht die Künste im allgemeinen. Er bevorzugt das Leben, er bevorzugt den Menschen ... er ist ein Neugieriger, ein Mann, der sich informiert, einer, der sich mehr für andere interessiert als für sich selbst."

Die letzten beiden Jahrzehnte seines Lebens drehte Roberto Rossellini fast ausschließlich fürs Fernsehen, darunter Biographien bedeutender Philosophen wie Pascal, Descartes und Sokrates. Er starb am 3. Juni 1977 an Herzversagen in Rom.

Foto: Roberto Rossellini, Ingrid Bergman 1950 in Venedig: Künstlerisch fruchtbare Skandalaffäre


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