© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 19/06 05. Mai 2006

Ein Mosaik aus Akten und Mutmaßungen
Bombenkriegsopfer Februar 1945: Die Dresdner Historikerkommission zur Ermittlung der Opferzahl stellt Zwischenergebnisse vor
Ekkehard Schultz

Liegt die Zahl der Opfer des Flächenbombardements auf Dresden am 13. und 14. Februar 1945 entgegen höheren Vermutungen doch bei etwa 25.000 bis 35.000? Zur Klärung dieser Frage richtete am 23. November 2004 der Dresdener Oberbürgermeister Ingolf Roßberg eine Historikerkommission unter Leitung von Rolf-Dieter Müller vom Militärgeschichtlichen Forschungsamt (MGFA) in Potsdam ein (JF 16/05). Ein näherer Einblick in die bisherige Arbeit der Kommission wurde dem interessierten Publikum im Rahmen eines öffentliches Symposium ermöglicht, das am vergangenen Mittwoch in den Räumen des Deutschen Hygiene-Museums stattfand.

Als erste Grundlage für die Arbeit dienten Akten aus dem Stadtarchiv, so unter anderem des Bestattungsamtes, des Fürsorgeamtes, der Luftschutzpolizei, des Kriegsschädenamtes und des Grünflächenamtes. Dabei wurden die einzelnen Bestände ausgewertet und in Beziehung zueinander gesetzt, da jedes Opfer der Luftangriffe nach den zu diesem Zeitpunkt geltenden gesetzlichen Verordnungen bis zu sechsmal durch verschiedene Institutionen registriert werden sollte, was freilich in der Realität nicht immer geschah.

Laut Begräbnisstatistik mindestens 25.000 Opfer

Nach den Angaben in den Akten des Grünflächenamtes, Abteilung Friedhofswesen, sowie des Bestattungsamtes seien - so Friedrich Reichert vom Stadtarchiv - auf dem Heidefriedhof am Stadtrand, der schon vor den Angriffen als Beisetzungsstätte für eine größere Anzahl von Toten bestimmt worden war, in den Jahren 1945 bis 1954 genau 17.728 als Opfer der Luftangriffe registriert und bestattet, davon knapp 7.000 Eingeäscherte. Auf dem Johannisfriedhof wurden weitere 3.666 Opfer bestattet, auf anderen Friedhöfen im Dresdener Stadtgebiet bis 1950 insgesamt 2.416 Opfer. Nach 1950 wurden etwa 300 Opfer der Luftangriffe aus den Trümmern geborgen. Zudem gibt es Mitteilungen über etwa 600 verstorbene Opfer in auswärtigen Krankenhäusern, die auf den dortigen Friedhöfen - teilweise weit von ihrer Heimat entfernt - bestattet wurden. Dies ergibt eine Gesamtzahl von insgesamt etwa 25.000 Toten. Diese Angabe deckt sich mit einer ersten Angabe der Stadtverwaltung im März 1945.

Einen weiteren Hinweis liefern die Akten des Kriegsschädenamtes. Insgesamt gingen bei dieser Institution fast 50.000 Antragstellungen zu jeweils einem Opfer der Luftangriffe ein. Da jeder gestellte Antrag grundsätzlich erst einmal als solcher erfaßt und nicht mit den anderen Daten abgeglichen wurde, kamen zahlreiche Doppelungen vor, da verschiedene Angehörige einer Person einen Antrag bezüglich des gleichen Individuums stellten. Heute sind noch um die 30.000 eingereichte Anträge im Original überliefert.

Die direkte Identifizierung der Opfer der Luftangriffe auf Dresden gelang nur in knapp 8.000 Fällen. Die Namen dieser Getöteten sind in der Kartei der Urkundenstelle des Standesamtes enthalten. Etwa 10.000 weitere Opfer sind namentlich bekannt, da sich ihre Angehörigen in den Jahren 1945 und 1949/1950 Todeserklärungen ausstellen ließen. Diese Erklärungen wurden frühestens nach acht Monaten auf Antrag von nahen Verwandten ausgestellt, die um die Ausstellung eines Todesscheines ersuchten. Darin wird "mit Bestimmtheit" erklärt, "daß der Vermißte den Tod gefunden hat". Die Vermißten stammten aus allen Teilen des Dresdener Stadtgebietes, jedoch auch aus anderen Regionen.

Doch kann die Zahl der Toten nicht doch weit höher als die laut Aktenbefunden ermittelten 25.000 bis 35.000 gelegen haben? Welche weiteren Möglichkeiten sind in Betracht zu ziehen? Im Hinblick auf die Vermutung, es könnte zum einen noch eine größere Zahl nicht geborgener (nahezu komplett verbrannter) Opfer in den verschütteten Kellerräumen geben, berichtete die Archäologin Judith Oexle von den Ergebnissen von Grabungen unter dem nahezu komplett zerstörten Altstadtzentrum, die seit Beginn der neunziger Jahre in größerem Umfang vorgenommen wurden. Dabei sei man häufig auf die Substanz baulich nahezu unbeschädigter Originalkeller von Wohnhäusern gestoßen, die man dabei auch einer eingehenden Untersuchung auf Spuren des Luftkrieges untersucht habe.

Dabei wurde zum einen festgestellt, daß sich neben vollkommen ausgebrannten Kellern auch nahezu unzerstörte Räume befanden. Offensichtlich habe sich daher ein starkes Feuer im Keller eines Objektes nicht zwangsläufig auf den Nachbarkeller übertragen, so Oexle. Daher seien Aussagen über die Verbrennung von Opfern in nahezu komplett zerstörten Straßen grundsätzlich nur mit Bezug auf das konkrete Objekt möglich; einfache Hochrechnungen dagegen nahezu unmöglich.

Zum anderen habe man keinerlei Hinweise gefunden, die auf bislang noch nicht entdeckte Tote schlössen. Allerdings habe man eine Reihe von Gegenständen in den Kellern entdeckt, die offensichtlich der großen Hitzeeinwirkung während der Bombenangriffe ausgesetzt waren. Aus den teilweise geschmolzenen Objekten aus Glas könne der Schluß gezogen werden, daß sich in den ausgebrannten Kellerräumen Temperaturen über 600 Grad Celsius entwickelt hätten. Aber auch bei diesen Temperaturen hätten sich bei menschlichen Leichen Rückstände, insbesondere von Zähnen und kleinen Skelettteilen finden müssen, so Oexle.

Der Historiker Richard Schnatz widmete sich anschließend einem Vergleich der Flächenangriffe auf deutsche Städte zwischen 1942 und 1945, der sich auf Daten der britischen Royal Air Force (RAF) sowie der amerikanischen Luftwaffe über die Menge der abgeworfenen Bomben stützte. Bei der Berechnung der durchschnittlichen Todesopfer pro abgeworfener Registertonne ermittelte Schnatz Werte von 0,0 (Münster am 25. März 1945) bis 14,5 (Hamburg am 27. Juli 1943). Hohe Todesraten pro Registertonne abgeworfener Bomben ergäben sich auch mit 11,3 in Pforzheim (23. Februar 1945) und 13,6 in Darmstadt (11. September 1944).

Rechnet man diese Werte auf die Bombenangriffe auf Dresden am 13. und 14. Februar 1945 um, so ergäbe sich bei einer Gesamtzahl von 25.000 Toten ein Durchschnitt von 9,3 Toten pro Registertonne, bei 35.000 von 13,1; bei 40.000 von 14,9, bei 50.000 von 18,7. Wenn diese Angaben durchaus noch als denkbar anzusehen seien, gelte dies für den Durchschnitt von 37,3 Toten pro Tonne für eine Annahme von 100.000 Toten nicht mehr, so Schnatz.

Zähle man zudem die Opferzahlen sämtlicher Flächenbombardements der RAF der Jahre 1942 bis 1945 - außer Dresden - durch, so ergäbe dies eine Zahl von über 200.000. Wenn man aber für Dresden von einer geschätzten Opferzahl von 200.000 ausgehe, dann müßten 770 Flugzeuge mit etwa 2.680 Tonnen Bomben binnen zehn Stunden die gleichen Personenverluste beschert haben wie 93.641 Einsätze von Flugzeugen mit 338.227 Tonnen Abwurfmunition innerhalb von drei Jahren, was "sehr unwahrscheinlich" sei.

Unverständnis und Proteste anwesender Dresdner

Auf die Herkunft der geschätzten Zahl von 200.000 Opfern, ging anschließend der Kommissionsvorsitzende Müller ein. Ein Teil solcher Vermutungen bezieht sich auf Angaben im Erinnerungsbericht von Major Eberhard Matthes, der an der Seite von Generalleutnant Karl Mehnert seit Anfang Januar 1945 für den Ausbau Dresdens zur Festungsstadt eingesetzt war. Laut Dienstvorschriften waren die Aufgaben der Wehrmacht dabei auf militärische Zwecke beschränkt, lediglich bei der Beseitigung schwerster aktueller Notsituationen im zivilen Bereich sollten Soldaten entsandt werden.

Es gebe keinen Hinweis darauf, daß ein solcher Einsatz länger als wenige Tage gedauert hätte, da die Sicherung und der weitere Ausbau zur Festungsstadt oberste Priorität für die Wehrmachtsangehörigen besaß. Daß die Wehrmacht einen besseren Einblick in das Ausmaß der Opfer gehabt habe als die zivile Stadtverwaltung, sei daher recht unwahrscheinlich, so Müller. Es sei eher davon auszugehen, daß die von Matthes in seinen Erinnerungen angegebene Opferzahl, die er von Mehnert erhalten haben will, auf das "erste Entsetzen" nach dem Angriff zurückzuführen sei.

Unter den zirka 250 anwesenden Dresdenern wurde mehrfach auf diese Ausführungen mit Unverständnis und mit Protesten reagiert. Die Kritiker verwiesen darauf, daß in den bisherigen Untersuchungen der Kommission die Anwesenheit zahlreicher Flüchtlinge aus Ostdeutschland nicht oder nur marginal berücksichtigt worden sei, auf die unterschiedliche Wirkung des eingesetzten Bombenmaterials, auf zahlreiche Verbrennungen von Luftkriegsopfern ohne entsprechende nachweisbare Registrierung sowie auf weit höhere Temperaturen, die dazu geführt hätten, daß von vielen Toten nachträglich keinerlei Spuren entdeckt wurden.

Foto: Dresdner vor Großfotos der zerstörten Stadt, Februar 2006: Flüchtlinge nur marginal berücksichtigt


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