© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 21/06 19. Mai 2006

BRIEF AUS BRÜSSEL
Zurück zu den Wurzeln
Andreas Mölzer

Ein Jahr, nachdem die Franzosen und Niederländer der EU-Verfassung eine Absage erteilt hatten, werden die Rufe nach deren Wiederbelebung immer lauter. So meinte Bundeskanzlerin Angela Merkel, man dürfe dieses Regelwerk nicht langsam einschlafen lassen. Ihr österreichischer Kollege Wolfgang Schüssel behauptete, er kenne "kein besseres Modell" als die EU-Verfassung. EU-Kommissionspräsident José Manuel Durão Barroso betreibt derweil ein Doppelspiel: Einerseits will er der Verfassung "noch eine Chance geben", andererseits die Entscheidung der Franzosen und Niederländer anerkennen. Die Kommission versucht die Verlängerung der "Reflexionsphase" über die EU-Verfassung zu nutzen, um die Souveränität der Mitgliedstaaten noch weiter auszuhöhlen. So tritt sie dafür ein, in der politisch sensiblen Innen- und Justizpolitik vom Einstimmigkeitsprinzip abzurücken und es durch Mehrheitsbeschlüsse zu ersetzen.

Mit dem Fortschreiten des Ratifizierungsprozesses - Estland hat als 15. Mitgliedstaat das Vertragswerk abgesegnet - soll offenbar Druck auf Paris und Den Haag aufgebaut werden. Je mehr Mitgliedstaaten die Verfassung ratifiziert haben, desto schwieriger soll es werden, nochmals Nein zu sagen. Derartige Absichten sind freilich nicht nur eine Mißachtung des Willens der Bürger, des Souveräns, sondern auch eine zumindest indirekte Einmischung in die inneren Angelegenheiten eines anderen Staates.

Mit ihrem Lippenbekenntnis, in Sachen EU-Verfassung den Bürger in den Mittelpunkt stellen zu wollen, führen Schüssel und Merkel eine alte Eurokraten-Tradition fort. Denn immer dann, wenn es in Brüssel ordentlich kracht, versucht die EU-Nomenklatura, den Europäern in homöopathischen Dosen Transparenz, Demokratie und Bürgernähe in die Augen zu träufeln, um so deren Sicht auf die wahren Vorgänge zu vernebeln. Wäre der Wille der Bürger wirklich relevant, warum hat man ihn nicht schon bei der Ausarbeitung der Verfassung beachtet?

Durch die Politik der EU tritt der Grundgedanke der europäischen Einigung, die Frie-densidee, immer mehr in den Hintergrund. Nicht mehr einen Bund selbstbestimmter Staaten, der nach außen hin stark auftritt, gleichzeitig aber seinen Mitgliedern im Inneren die größtmögliche Souveränität beläßt, verbinden Deutsche, Österreicher oder Franzosen mit dem Begriff "Integration", sondern Zentralismus, Verschleierung und Einmischung in die ureigensten Aufgaben der Nationalstaaten durch das ferne Brüssel. Wollte man das "Projekt Europa" tatsächlich neubegründen, wie es Angela Merkel anregte, dann wäre dazu eine völlige Kehrtwende erforderlich.

Angesichts der globalen Herausforderungen ist ein nach außen stark auftretender europäischer Staatenbund notwendiger denn je. Ohne zwischenstaatliche Zusammenarbeit wird sich Europa im Zeitalter der Globalisierung in den weltweiten Verteilungskämpfen insbesondere gegenüber den USA und China ebensowenig behaupten können wie gegen den aggressiven Islam, der Europa als neues Missionierungsgebiet entdeckt hat. Und nicht zuletzt könnten miteinander verbündete Nationalstaaten auch ein Bollwerk gegen Massenzuwanderung und politisch korrekten Multikulturalismus sein.

 

Andreas Mölzer ist Chefredakteur der Wiener Wochenzeitung "Zur Zeit" und seit 2004 FPÖ-Europaabgeordneter.


Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen