© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 21/06 19. Mai 2006

Eckstöße: Marginalien zur Fußball-WM (Folge XI)
Die Sportschau gab den Ausschlag
Arthur Hiller

Allzu viele Möglichkeiten, die Öffentlichkeit mit seinem 23-Mann-Kader für die Weltmeisterschaft zu überraschen, hatte Jürgen Klinsmann nicht. Doch auch diesmal verstand er es, einen nur bescheidenen Spielraum für unergründliche Entscheidungen zu nutzen, um den Nimbus seiner eher Freund als Feind irritierenden Unberechenbarkeit zu stärken. So wird Kevin Kuranyi bei dem Turnier auf die Zuschauerränge verwiesen. Klinsmann trägt damit dem Umstand Rechnung, daß der einstige Torgarant mit seinem Wechsel zum Schuldenmeister Schalke 04 in einem Formtief versumpft ist, aus dem ihn auch Berufungen ins Nationalteam nicht herausgeholfen haben.

Auf diese Weise bricht Klinsmann mit dem Prinzip Hoffnung, das seine Vorgänger an Torjägern mit vorübergehender Ladehemmung festhalten ließ, bis dann doch irgendwann wieder der Knoten platzte. Er selbst profitierte als Aktiver von dieser Nibelungentreue gleich zweimal: In der Ära Vogts blieb er zwischen Oktober 1990 und Juni 1992 in zehn, zwischen Oktober 1996 und September 1997 in acht Länderspielen ohne Treffer.

Allerdings läßt sich auch hieraus kein Nominierungsprinzip Klinsmanns destillieren. Den Vertrauensvorschuß, den er Kuranyi, aber auch Patrick Owomoyela und Fabian Ernst verwehrt, investiert er großzügig in Robert Huth, Arne Friedrichs, Thomas Hitzl-sperger, Mike Hanke und Christoph Metzelder, die allesamt, sofern sie überhaupt zum Zuge kamen, weder im Verein noch in der Nationalmannschaft in den vergangenen Monaten zu überzeugen wußten. Auch die Augenblicksform knapp vier Wochen vor dem Beginn des Turniers kann daher nicht das entscheidende Kriterium für die Berufungen gewesen sein.

Gab also doch vielleicht eine noch niemandem so recht bewußte Spielphilosophie den Ausschlag? Gar eine des munteren Angriffsfußballs, der drei kassierten Toren eben vier erzielte entgegensetzt? Darauf läßt jedenfalls die unerwartete Berücksichtigung des Neulings David Odonkor schließen, der sich, so meint jedenfalls Klinsmann, durch "Frechheit, Schnelligkeit und Unbekümmertheit" auszeichnet. Ganz so ins offene Messer wie dessen Team Borussia Dortmund in der vergangenen Saison will der Bundestrainer aber auch nicht, und daher setzt die längst nicht mehr überraschende Nominierung von Jens Nowotny einen Kontrapunkt hüftsteifer Defensive, zu dem sonst nur der ausgebootete Christian Wörns imstande wäre.

Möglicherweise ist die Entscheidung Klinsmanns aber auch unter viel banaleren Umständen zustande gekommen: Er hat sich die Sportschau vom vergangenen Samstag angeschaut und einfach die genommen, die in den Kurzberichten am besten wegkamen. Diese Erklärung ist immer noch die schlüssigste.


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