© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 22/06 26. Mai 2006

BRIEF AUS BRÜSSEL
Halbherziges Vorgehen
Andreas Mölzer

Allen Bedenken zum Trotz - selbst der Kommissionsbericht ist mehr Mängelliste als Attest der Beitrittsreife - gab die EU grünes Licht für den Beitritt Rumäniens und Bulgariens mit Beginn des kommenden Jahres. Zwar will Brüssel erst im Oktober endgültig über die Aufnahme dieser beiden Länder, die zweifellos Teil der europäischen Völkerfamilie sind, entscheiden, aber man darf bereits jetzt davon ausgehen, daß die EU die Möglichkeit, die Beitritte auf 2008 zu verschieben, ungenützt verstreichen lassen wird.

Sollte der "Reformeifer" Bukarests und Sofias bis zum Herbst nachlassen, so bliebe das hingegen folgenlos. Lediglich die Aktivierung von Schutzklauseln, die den Zugang der beiden südosteuropäischen Staaten zum Binnenmarkt oder zur Innen- und Justizpolitik verhindern, ist für diesen Fall vorgesehen. Ob diese Druckmittel aber so lange aufrechterhalten werden können, ist ebenso fraglich wie der angedrohte Entzug von Förderungen. Denn es ist zu erwarten, daß sich Rumänien und Bulgarien auf Dauer nicht mit einer EU-Mitgliedschaft zweiter Klasse begnügen werden und Brüssel, wenn Gras über die Sache gewachsen ist, die Einschränkungen aufhebt.

In auffallendem zeitlichen Zusammenhang mit der Beitrittsentscheidung steht die plötzliche Härte des Erweiterungskommissars Olli Rehn gegenüber der Türkei. Wenn Ankara nicht unverzüglich das Protokoll über die Ausweitung der Zollunion auf die zehn neuen EU-Mitglieder - darunter Zypern, was einer faktischen Anerkennung gleichkäme - ratifiziere, dann müsse die Türkei eine "Pause" im Beitrittsprozeß in Kauf nehmen, posaunte der liberale Finne, der bislang als Türkei-Lobbyist in Erscheinung getreten war.

Für die Kehrtwende Rehns dürften weder die Zypern-Frage noch die drohenden Einschränkungen der Meinungs- und Pressefreiheit durch das geplante türkische "Antiterrorgesetz" ausschlaggebend gewesen sein. Vielmehr sollen mit der demonstrativ zur Schau gestellten strengen Haltung gegenüber Ankara die Kritiker eines türkischen EU-Beitritts beruhigt werden.

Ankara führt indessen seine brüskierende Politik mit unverminderter Intensität fort. Als die Sozialisten in der französischen Nationalversammlung einen Gesetzesentwurf einbrachten, der für die Leugnung des Völkermordes an den christlichen Armeniern Strafen bis zu einem Jahr Haft vorsah, drohte Türkenpremier Recep Tayyip Erdogan mit Wirtschaftssanktionen gegen Frankreich. Das politische Establishment machte daraufhin einen Rückzieher und vertagte die Debatte über den Entwurf auf unbestimmte Zeit. Wirtschaftliche Interessen zählen also in der hehren Wertegemeinschaft mehr als die geschichtliche Wahrheit.

Drohungen mit dem Abbruch der wirtschaftlichen Beziehungen gegen einen Mitgliedstaat jener Union, der man beitreten will, wären eigentlich ein Grund für einen sofortigen Abbruch der Beitrittsgespräche. Der nunmehrige Kniefall der französischen Parlamentarier vor Erdogan wird hingegen Ankara in seiner Auffassung bestärken, der EU die Bedingungen für seinen Beitritt diktieren zu können. Denn die Schlußfolgerungen für die Türken können nur lauten: Mit Drohungen erhalten wir von den Europäern was wir wollen.

 

Andreas Mölzer ist Chefredakteur der Wiener Wochenzeitung "Zur Zeit" und seit 2004 FPÖ-Europaabgeordneter.


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