© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 22/06 26. Mai 2006

Marx und Engels beim Hummerfrühstück
Aus und vorbei: Vom Bürgertum ist nur die Sehnsucht nach dem Bürger geblieben
Wolf Jobst Siedler

Das Gespenst des Bürgers, um mit Marx zu reden, geht um in Europa. Jedermann spricht vom Bürger, glaubt an seine Existenz, will ihn gesehen haben. Aber das ist nur eine Sehnsucht, die für ein Gefühl des Verlustes spricht. Das Verlangen nach Bürgerlichkeit kann das Bürgertum nicht ersetzen.

Das Bürgertum ist im zwanzigsten Jahrhundert ein für allemal untergegangen. Aus dem Chaos der verschiedenen Katastrophen ging eine neue Gesellschaft hervor, die weder den Aristokraten kennt noch den Bürger, wenn man diese Begriffe ernst nimmt. Der Adel hat selbst seine traditionellen Rückzugsgebiete verloren, in denen er zuletzt Zuflucht suchte, er ist weder in der Diplomatie noch in der Armee präsent.

Selbst sein Gegenbild verschwand, den klassischen Industriearbeiter gibt es nicht mehr. Aus der Folge von immer neuen Revolutionen dem Sturz der Monarchie und dem Aufkommen und dem Untergang von Kommunismus und Faschismus ging eine egalitäre Gesellschaft hervor. Vielleicht hat eben das den staunenswerten Aufschwung der fünfziger und sechziger Jahre möglich gemacht. Nun gab es keine hindernden Kräfte mehr, weder die Großagrarier Ostelbiens noch die Industrieellenverbände wie die "Ruhrlade" der zwanziger und dreißiger Jahre.

Westerwelles "Besserverdienenden" sind keine Bürger, wie schon aus der Tatsache hervorgeht, daß man heute dazugehören, morgen herausfallen kann. Es fehlt ihnen unter anderem die Kategorie der Dauer. Die Handelsbürger des Mittelalters, etwa die Welser oder die Fugger, hatten für Jahrhunderte Bestand, die Kaufmannschaft der Neuzeit, wie die Bürger der norddeutschen Handelsstädte, lebte für mehrere Generationen. Man gehörte zu diesen Bürgern, weil man aus einer bürgerlichen Familie hervorgegangen war. Die Idis oder die Slomans sind zwar repräsentativ für das Hamburger Kaufmannsbürgertum, aber ähnlich war es ja auch in Rostock, in Wismar oder in Danzig. Die Dauer ist selbst in der studentischen Provokation noch faßbar: "Unter den Talaren der Muff von tausend Jahren."

Die Adenauer-Gesellschaft schien den Bürger wieder in sein Recht einzusetzen. Aber es fällt auf, daß sie selber keine Bürger als Repräsentanten hervorbrachte. Weder Adenauer noch Gerstenmaier, der Repräsentant des Parlaments, oder Speidel, der für die Armee stand, stammten aus bürgerlichen Familien. Strenggenommen waren sie Newcomers, waren nicht aus den klassischen Bildungsanstalten hervorgegangen, dem Grauen Kloster oder dem Französischen Gymnasium.

Den jetzigen Führungsschichten geht vieles von dem ab, was unabdingbar zum Bürger gehört: Dauer, Tradition und Beständigkeit. Die alten Bürger standen in einem Zusammenhang, der auch Ausreißer trug, Christian und Toni in den "Buddenbrooks" stehen für solche entlaufenen Bürger, die bei allem persönlichen Versagen von der Familie aufgefangen werden.

War der letzte Krupp, der sich seines Konzerns gegen eine Jahresrente von mehreren Millionen entledigte, ein Bürger? Und weshalb gingen praktisch alle großen Familienunternehmen in andere Hände über, die Borsigs wie die Allgemeine Elektrizitäts Gesellschaft, die AEG, die von einer Familie, den Rathenaus, Vater und Sohn, gegründet und über mehr als ein Jahrhundert getragen worden war? Der siebzigjährige Carl Friedrich Wilhelm Borgward focht zuletzt einen verzweifelten Kampf gegen das Gesetz der modernen Wirtschaft, schließlich mußte auch er kapitulieren, die Banken, die mit seinen Konkurrenten zusammenarbeiteten, übernahmen sein Lebenswerk. Das macht den "Fall Borgward", der zuletzt tragische Züge besaß, zu einem symbolischen Vorgang, er steht für den Untergang der alten Familienunternehmen. Die Mercedes Werke oder die BMW-Unternehmen, obwohl sie alte Familienunternehmen zu sein schienen, waren in Wirklichkeit anonyme Gesellschaften.

Die "Kriegsverbrecherprozesse" in Nürnberg, wo nicht wenige alte Inhaber wie etwa die Blohms auf der Anklagebank saßen, machten deutlich, daß es selbst noch unter Hitler Familien gegeben hatte, die die Industrie steuerten. Heute ist das lange vorbei, es sind alles mehr oder weniger anonyme Aktiengesellschaften, deren Köpfe austauschbar sind. Das wurde zuletzt an der einst mächtigsten Figur der deutschen Industrie deutlich, Jürgen Schrempp, der von einem auf den anderen Tag im Nichts verschwand. Wo Inhaber-Familien wie die Quandts noch über die Aktienmehrheit verfügten, haben sie nichts mehr mit der Führung des Unternehmens zu tun. Sind das Bürger im alten Sinn?

Natürlich hat die neue Gesellschaft ihre eigene Führungsschicht hervorgebracht, und sie ist wahrscheinlich nicht weniger wirkungsmächtig als die alte, aber zum Bürgertum gehört sie nicht mehr, denn sie sind auswechselbar, wie das Kommen und Gehen in den Aufsichtsräten und Vorständen zeigt. Der Manager, ein Begriff, den James Burnham in die Diskussion eingeführt hat, ist an die Stelle des Inhabers getreten, der ein Bürger war. Dieser Manager ist eine übernationale Erscheinung, die französische, englische oder italienische Industrie kennt ihn genauso wie die deutsche.

Natürlich war der Bürger einst ein Träger des Neuen, ein Revolutionär. Man hat sich oft amüsiert über Karl Marx' Vorliebe für Plastrons und Hummerfrühstücke, mit denen ihn sein Freund Friedrich Engels um gut Wetter bat, wenn er schlechte Nachrichten hatte. Aber Plastrons gibt es heute sowenig wie die Hummerstuben in Hafenstädten, in Hamburg oder in Rostock. Selbst in dieser Hinsicht ist der Bürger mit seinen verschwiegenen Vorlieben untergegangen. Es gibt ihn nicht mehr.


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