© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 23/06 02. Juni 2006

Eckstöße: Marginalien zur Fußball-WM (Folge XIII)
Einfallslos innovativ
Arthur Hiller

Vierzehn Spieler waren es, die vor knapp zwei Jahren Rudi Völler im Estádo José Avalade zu Lissabon sein ungeplantes Abschiedsspiel als Bundestrainer bescherten. Gemeinsam mißlang ihnen der Griff nach dem letzten Strohhalm, um doch noch die Gruppenphase der Europameisterschaft zu überstehen. Mit 1:2 mußten sie sich der zweiten Garnitur der Tschechen geschlagen geben und durften, ohne daß jemand ihr Scheitern als ungerecht empfunden hätte, die Heimreise antreten. Zehn der Verlierer von Lissabon stehen nun auch im Kader, den Jürgen Klinsmann für die WM berufen hat, zumindest acht von ihnen dürften in der Anfangsformation auflaufen, die am 9. Juni gegen Costa Rica das Turnier eröffnet.

Von einem personellen Neuanfang in den vergangenen zwei Jahren kann folglich nicht gesprochen werden. Die Fluktuation unter Klinsmann war bislang nicht aufsehenerregender als in zurückliegenden Epochen. Spieler werden zu alt, erweisen sich als Eintagsfliegen oder versinken im Formtief, junge Akteure oder Spätberufene rücken nach: Der bescheidene Wandel der Nationalmannschaft seit der EM 2004 läßt sich eher auf diese seit jeher wohlvertrauten Phänomene zurückführen als auf eine Geheimlehre, mit der der neue Bundestrainer das Spiel seiner Schützlinge zu revolutionieren trachtete.

Ein - maßvoller - Umbruch hat sich in den vergangenen Jahren lediglich nach der WM 2002 zugetragen, also in der zweiten Hälfte der Ära Völler. Die meisten der jungen Leistungsträger, auf die Klinsmann heute baut, debüttierten noch in der Amtszeit seines Vorgängers. Von den (David Odonkor eingerechnet) zwölf Neulingen unter seiner Ägide, schafften nur sechs den Sprung in den WM-Kader, allein einer, Per Mertesacker, mag als "gesetzt" erscheinen.

Wenn von Innovation gesprochen wird, die unter Klinsmann Einzug gehalten habe, kann daher allein die umtriebige Entschlossenheit gemeint sein, mit der er sich die Rahmenbedingungen seines Wirkens gegen alle Widerstände nach Gutdünken gestaltete. Dazu gehören die Heimaturlaube in Kalifornien genauso wie die Besetzung des Trainer- und Betreuerstabes mit Personen seines unbedingten Vertrauens, die Ansiedelung des WM-Quartiers in Berlin statt in Leverkusen und esoterische Trainingselemente vom Entenwatscheln bis hin zum Uhrenbasteln. Eine neue Spielphilosophie ist nur erkennbar, wenn schwächere Gegner ihre Umsetzung zulassen. Deren gibt es aber nicht viele. Klinsmann steht für den Versuch, durch neues Denken und Optimismus zum Erfolg zu kommen, obwohl die für einen solchen erforderlichen Ressourcen weiter geschwunden sind. Damit paßt er gut zur Bundesrepublik von heute, in der sich derartige Hoffnungen nicht auf den Sport beschränken.


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