© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 23/06 02. Juni 2006

"Was sind einzelne Menschen in diesem Spiel"
Großer alter, so lieber Herr: Warum Gerhart Hauptmann Deutschland, Schlesien und sein Haus "Wiesenstein" nicht verlassen konnte
Thorsten Hinz

Nie zuvor war ein deutscher Dichter gefeiert worden wie Gerhart Hauptmann im Jahr 1932 aus Anlaß seines 70. Geburtstags. Am 16. Februar ging in Berlin sein letztes Erfolgsdrama "Vor Sonnenuntergang" über die Bühne. Drei Tage später brach er zu einer vierwöchigen Reise in die USA auf, wo er die Ehren eines Staatsgastes erfuhr. Sogar das Weiße Haus öffnete ihm die Türen. In Deutschland erwarteten ihn Festaufführungen, Preis- und Ordensverleihungen, Ausstellungen. Kaum eine Großstadt, die kein Bankett für ihn ausrichtete. Mitte Dezember fuhr er wie jedes Jahr nach Italien.

Im Mai 1933 kehrte er nach Hause zurück, ins heimatliche Schlesien, in ein verändertes Deutschland. Auf Anforderung erklärte er verschiedentlich seine Loyalität gegenüber den neuen Machthabern. Bald sah er sich aus Emigrantenkreisen heftiger Kritik ausgesetzt, die sich in der Literaturwissenschaft bis heute fortsetzt. Entscheidungsschwach, harmoniesüchtig, politisch naiv sei er gewesen, urteilt sein Biograph Wolfgang Leppmann (West), auch mochte er vom Wohlleben nicht lassen, und "schollenverbunden", wie er nun einmal war, sei die Affinität zum Nationalsozialismus folgerichtig gewesen. Ähnlich Eberhard Hilscher (Ost): "Von einem Manne, der die Möglichkeit freier Willensbestimmung bestritt, der Kompromisse befürwortete, das Irrationale und Rauschhafte bejahte", sei "in den Grundfragen der Nation kaum eine entschiedene Stellungnahme" zu erwarten gewesen. Als Beleg zitiert Hilscher eine Tagebuchnotiz Hauptmanns: "Ich könne eine Weltbewegung, die Italien, Deutschland, Rußland, China ergriffen hat, durch mein Wort aufhalten? Narren, Kinder, Dummköpfe! Was sind einzelne Menschen in diesem Spiel." Enthalten diese Sätze aber nicht mehr politischen Realismus als alle antifaschistischen Kampfschriften von Brecht, Feuchtwanger, Heinrich Mann zusammen? Diese Frage wird in der Sekundärliteratur nicht gestellt, dort geht es um die moralische Abkanzelung. Fragen wir also nach den Voraussetzungen von Hauptmanns Haltung.

Das Europa nach Versailles war ihm ein Hort der Lügen

Sie sind ohne Versailles nicht zu denken. Der gutmütige, an Politik in der Tat nur mäßig interessierte Hauptmann steigerte sich zu heiligem Zorn, wenn es um die Abtrennung Oberschlesiens, die Besetzung des Ruhrgebiets oder den verweigerten Anschluß Deutsch-Österreichs ging. Wie hätte er, als er 1938 erfolgte, etwas anderes für ihn sein können als die "folgerichtige Verwirklichung einer geschichtlichen Notwendigkeit"? (Berliner Tageblatt, 2. 4. 1938)

Das von den Siegermächten bestimmte politische Europa war ihm ein Hort der Lügen. "Seine schamlosesten Lügen heißen: Christentum, Menschenliebe, Herrschaft der Vernunft, Völkerrecht, Völkerbund, Menschlichkeit, Kultur. Statt dessen müßte es heißen: Bestialität, Menschenhaß, Herrschaft der Unvernunft." Am 1. April 1923 schrieb er im Tageblatt: "Was aber rät das Sprichwort den Geknechteten? 'Wer keiner Gewalt widerstrebt, der zieht sie groß.' - 'Wer zu Gewalt schweigt, verliert seine Rechte.'" Auch das Recht auf Kritik! So gab es für ihn 1933 keinen Grund, seine Entscheidung über die Rückkehr nach Deutschland von ausländischem Stirnrunzeln abhängig zu machen.

Außerdem: Mußte es ihn nicht an jeder Moralität von Politik zweifeln lassen, daß Deutschland erst unter dem Diktator jene Selbstverständlichkeiten konzediert wurden, die seinen demokratischen Vertretern verweigert worden waren? Am 15. November 1937, seinem 75. Geburtstag, hielt er über den Deutschen Kurzwellensender eine Rede an die Deutschen in Übersee, in der auf den Dreißigjährigen Krieg zurückkam, der Deutschland "als einen einzigen Leichnam" zurückließ. Die Lehre daraus war dieselbe wie nach dem Ersten Weltkrieg: "Aber wir wissen auch, was seine geographische Lage von jedem Deutschen verlangt: nämlich mit Mut, Gut und Blut jederzeit zu seiner Verteidigung bereit zu sein."

Im November 1940 bekundete er in der Zeitschrift Das Reich sein Glück über das nun grenzenlose Schlesien. "Seit dem Weltkriege sah man immer wieder imaginäre Arme und Hände danach ausgestreckt, und das Unmögliche, daß nämlich Breslau eines Tages nicht mehr deutsch sein sollte, trat ins Bereich des Möglichen. Das ist nun ebenfalls anders geworden. (...) Der Schlesier wäre kein deutscher Mensch, wenn er das nicht mit Behagen fühlte." Die Ängste waren auch persönlicher Art gewesen: "Vielleicht, so hatte ich mir zu sagen, mußt du einmal Haus und Herd verlassen, weil sie nicht mehr in deutscher Erde begründet sind. Dieser Alpdruck ist, Gott sei Dank, von uns genommen." Nachträglich fragt man sich, ob die Furcht nicht doch vielmehr die Zukunft betraf.

Am 1. Januar 1941 schrieb er im Berliner Lokalanzeiger, die Deutschen befänden sich in einem "erklärten Krieg", sie seien aber "durch das Christentum hindurchgegangen, und niemals mehr werden wir das Beste seiner Ethik aus unserem Blute entfernen wollen: (...) Humanität! Der Krieg, der bei den Spartanern Selbstzweck war, ist es uns nicht. Es klingt paradox: aber der wahrhaft europäische Mensch von heut führt nur Krieg um des Friedens willen."

In einigen Zitaten klang an, wie tief Hauptmanns in Schlesien verwurzelt war. Bereits seine Vorfahren hatten hier gelebt. Für die Schlesier war er zu einer Art Rübezahl geworden, die lebende Inkarnation ihrer Provinz. Duktus, Themen und Stoffe seiner Dichtungen schöpfte er aus Landschaft, Geschichte, Mystik und dem Dialekt Schlesiens.

Als er sich 1901 sein Haus "Wiesenstein", ein burgartiges Schlößchen, am Fuße des Riesengebirges erbauen ließ, war das nicht als mechanischer Eingriff in die Berglandschaft geplant, um sie sich nutzbar zu machen, sondern ein - buchstäblich - fundamentales Bekenntnis zu ihr, ein Akt des Hegens und Behütens für ihren Genius loci. Das Haus sollte "die mystische Schutzhülle (seiner) Seele" bilden. Hier trug er eine kostbare Bibliothek zusammen, Kunstwerke und Familienstücke, die Wohnhalle schmückten Wandfresken zum Thema "Das schlesische Paradies", die Motive aus seinen Werken aufgriffen. In Truhen und schweren Danziger Schränken lagerten seine Manuskripte. Hier war sein Zuhause!

Die Vertrauten seiner letzten Jahre (die Literaturwissenschaftler C. F. W. Behl und Felix A. Voigt, die Schriftsteller Erich Ebermayer, Hans von Hülsen und Gerhart Pohl) haben nach Hauptmanns Tod ihre Erinnerungen publiziert. Sie beschrieben den "Wiesenstein" als Refugium vor den Widrigkeiten der Zeit, in dem die unterschiedlichsten Vergangenheiten, geistigen Räume und das Fluidum der Persönlichkeiten, die jemals zu Besuch waren, zu einer intensiven Allgegenwart verschmolzen. Das als "Schollenverbundenheit" zu verhöhnen, ist billig.

Um der Bedeutung gerecht zu werden, die dem "Wiesenstein" hier zugeschrieben wird, muß man auf Heideggers Deutung des griechischen Tempels zurückgreifen: Er ist in der Erde verwurzelt und ihr entsprungen. Er verbirgt die Erde unter sich und verbindet sie mit dem Himmel. Als säulenumstandener Raum ist er zugleich offen und umschlossen. "Ein griechischer Tempel ist daher der Ort, an dem sich die beiden ursprünglichen Mächte der Wahrheit des Seins - Offenheit, 'die Lichtung', und Verborgenheit oder beschütztes Umhüllen - verbinden." (G. Steiner)

Aus Gründen, die tiefer lagen als alle Politik und Moral, konnte Hauptmann, der Kunst als Religion und sich selbst als das Medium des Unaussprechlichen verstand, Deutschland, Schlesien und seinen "Wiesenstein" unmöglich verlassen.

Er wurde für ihn um so wichtiger, je enger sich sein Lebenskreis zog. Im Frühjahr 1939 kehrte er von seiner letzten Italienreise zurück, dann verbot der Krieg Fahrten ins Ausland. Auch innerhalb Deutschlands machten Transportschwierigkeiten und die Luftkriegsgefahr das Reisen immer beschwerlicher. Das Riesengebirge blieb von direkten Kriegseinwirkungen bis zum Schluß verschont.

C. F. W. Behl, der im Auftrag des Fischer-Verlags die Gesamtausgabe letzter Hand vorbereitete und dafür nach Agnetendorf übersiedelte, hat über seine "Zwiesprache mit Gerhart Hauptmann" Tagebuch geführt. Politische Erörterungen scheint er gemieden zu haben, um den Kopf für literarische Arbeit freizuhalten. Sehr nahe gingen ihm die Berichte von Bombenangriffen.

Die Russen hielten die Hand über ihn, solange es ging

Die Silvesternacht von 1944 auf 1945 überschlief er, zum ersten Mal in seinem bewußten Leben. Er hege kein gutes Vorgefühl für das kommende Jahr, notierte Behl. Am 12. Januar schloß er die Korrekturen seines letzten Dramas, "Elektra", ab. Am selben Tag begann im Osten die russischen Großoffensive, und damit tauchte für Hauptmann "unmittelbar" die Frage nach der Zukunft seines Hauses auf. Die Gespräche am flackernden Kamin waren von melancholischer, "seltsam transitorischer Stimmung".

Anfang Februar fuhr er mit seiner erkrankten Frau zur Kur nach Dresden, auch zur eigenen "'psychischen Luftveränderung' (...) Keinesfalls wolle er sich dem schlesischen Schicksal entziehen." In Dresden sollte er die Hölle erleben. Am 15. März kehrte er unter Mühen nach Agnetendorf zurück. Seine Frau bat den Schriftsteller und Nachbarn Gerhard Pohl zu sich. "Wir werden auf dem Wiesenstein bleiben, um hier zu leben und wenn nötig - zu sterben ..."

Im Mai zogen russische Truppen in Agnetendorf ein. Die Russen haben sich Hauptmann gegenüber nobel verhalten. Solange es ging, hielten russische Kulturoffiziere - in der Regel handelte es sich um hochgebildete, fließend Deutsch sprechende, in die deutsche Kultur geradezu vernarrte Spezialisten - ihre schützende Hand über seine Person und sein Haus. Gerhart Pohl schildert den kurzen Besuch eines jungen Leutnants, der um ein zweiminütiges Gespräch bat. Er rezitierte auf russisch Verse aus dem Drama "Hanneles Himmelfahrt", zog dann ein Foto des Dichters aus der Tasche und bat um ein Autogramm: "'Die mir glauben sollen zu Hause, daß ich dich kennen, großer alter, so lieber Herr!' Und er küßte die Hand des Greises und verschwand."

Im April 1946 teilten die sowjetischen Militärs ihm mit, daß die Evakuierung der Deutschen im Kreis Hirschberg bevorstünde. Sie drängten Hauptmann zum Aufbruch und sicherten ihm einen Sonderzug für Mobiliar und Hausrat zu. Hauptmann nahm das Angebot an, sagte aber später, lebend würde man ihn nicht vom "Wiesenstein" fortbringen.

Im Mai erkrankte er und fiel schließlich in Ohnmacht. Einige Sätze aus Gerhart Pohls berühmtem Bericht: "Am 3. Juni waren die letzten Worte Gerhart Hauptmanns zu vernehmen. Sie formten kein Vermächtnis des Künstlers, keinen Appell an die Welt, kein Wort der Liebe für die wahrhaft geliebte Gattin, vielmehr - die in ihrer Möglichkeit bestürzende, die Menschheit tief beschämende Frage: 'Bin - ich - noch - in meinem - Hause?' Einer der größten deutschen Dichter und der größte Schlesiens überhaupt ist in dem Bewußtsein der drohenden Obdachlosigkeit gestorben." Sein Tod erfolgte am 6. Juni 1946, nachmittags. Bis heute wartet er auf eine angemessene Deutung.

Begraben wurde er auf dem Friedhof der Insel Hiddensee, wo er 60 Jahre lang die Sommermonate verbracht hatte. Seine Frau schrieb dem Inselpfarrer: "Der Abschied vom Wiesenstein naht - der Abschied für immer. (...) Manchmal sagte Gerhart zu mir: 'Wenn ich nicht fürchten müßte, meine guten Schlesier zu kränken, so möchte ich am liebsten auf diesem schlichten Friedhof von Hiddensee meinen ewigen Schlaf schlafen.' Da sein Schlesien mit ihm stirbt, so kann ich ihm nun seinen letzten Wunsch erfüllen."

Foto: Gerhart Hauptmann (1862-1946): Schlesien starb mit ihm, nun ruht er auf Hiddensee


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