© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 23/06 02. Juni 2006

Bis zum bitteren Ende
Der Militärhistoriker Heinz Magenheimer analysiert die Strategien der kriegführenden Mächte während des Zweiten Weltkriegs
Heinz Magenheimer

Entgegen den Thesen einiger Historiker war das Kriegsziel Deutschlands unmittelbar nach dem 1. September 1939 auf die Niederwerfung Polens und die Abwehr eines möglichen Angriffs der Alliierten gegen den Westwall gerichtet. Es erscheint reichlich überspitzt, einen "Stufenplan" Hitlers anzunehmen, da die deutsche Strategie von der Lageentwicklung abhing, die keineswegs vorausgesehen werden konnte. Die deutsche Kriegführung glich eher einer Improvisation, da die Rüstungsproduktion für einen längeren Krieg nicht ausreichte.

Die Westmächte verfolgten eine zunächst defensive Langzeitstrategie, die auf Isolierung und Ermattung Deutschlands setzte. Die Forderung an Berlin nach Wiedererrichtung Polens entbehrte der Grundlage, nachdem die Sowjetunion ab dem 17. September die Osthälfte des Landes besetzt hatte. Die starken Flankenmächte USA und Sowjetunion warteten auf ihre Chance, möglichst viele Vorteile aus dem Krieg in Westeuropa zu schlagen. Moskau konnte um so mehr gewinnen, je mehr sich die beiden Lager erschöpften. Die USA hingegen würden Großbritannien und Frankreich um so mehr in Abhängigkeit bringen, je länger der Krieg dauerte. Beide Flankenstaaten folgten der "Strategie der freien Hand".

Ausweitung des Krieges war nicht im Sinne Deutschlands

Der schnelle Sieg der Wehrmacht in Westeuropa ab 10. Mai 1940 festigte zwar die Position Deutschlands, erreichte aber nicht das erstrebte Kriegsziel, nämlich den Ausgleich mit Großbritannien. Eine Ausweitung des Krieges lag nicht im Sinne Deutschlands. Die britische Führung verwarf die deutschen Friedensfühler und wählte den Kampf um jeden Preis. Churchill folgte einer irrationalen Strategie, indem er den Bestand des Empire aufs Spiel setzte. Sein Kriegsziel lautete nun, die Vormacht Deutschlands in Mitteleuropa ein für allemal zu brechen und dafür keine Opfer zu scheuen, wodurch der Krieg eine unerwartete Verschärfung erfuhr. US-Präsident Franklin D. Roosevelt unterstützte zwar Großbritannien nach Kräften, doch zielte er auf dessen Machteinbuße und Unterordnung ab.

Inzwischen begann die andere Flankenmacht Sowjetunion, die mit den Siegen der Wehrmacht nicht gerechnet hatte, sich auf einen Krieg mit Deutschland einzustellen, und erweiterte im Juni/Juli 1940 ihr Vorfeld in Nordost- und Südosteuropa. Stalin gab die bisherige Zurückhaltung auf, traf massive Kriegsvorbereitungen und billigte einen Offensivaufmarsch, da ihm ein Krieg mit Deutschland unvermeidlich erschien.

Da Deutschlands direkte Strategie gegen Großbritannien in der Luftschlacht über England gescheitert war und seine Rückenfreiheit zunehmend bedroht erschien, fiel im Winter 1940/41 Hitlers Entschluß zu einem strategischen Zwischenschritt: Dem Schlußkampf im Westen sollte die Niederwerfung der Sowjetunion vorausgehen. Andere strategische Alternativen wären kaum weniger riskant gewesen. Damit nahm Deutschland den Zwei-frontenkrieg in Kauf, um einer noch größeren Gefahr zu entgehen, nämlich dem mittelfristig drohenden Angriff der Roten Armee. Auch im Westen mußte man früher oder später mit dem Eingreifen der USA rechnen, da Roosevelt ungeachtet der Konfrontation mit Japan in Deutschland den Hauptgegner sah.

Der Angriff der Wehrmacht auf die UdSSR am 22. Juni 1941 machte zwar deren bisherige Strategie zunichte, verschaffte aber Churchill das Bündnis mit Stalin. Die deutsche Führung unterschätzte den Gegner, den man im Alleingang ohne die Hilfe Japans in kurzer Zeit niederringen wollte. Dies bedeutete einen strategischen Fehler der Dreierpaktstaaten, den Hitler 1945 rückblickend heftig bedauerte, da, wie er meinte, die USA nach einem Zusammenbruch der UdSSR nicht in den Krieg eingegriffen hätten.

In Japan betrachtete man hingegen die USA als Hauptfeind. Nach der Verhängung des Wirtschaftsembargos gegen Japan am 1. August 1941 stand das Land vor der Wahl zwischen Krieg oder Hinnahme des Diktats. Die Strategie Japans setzte auf Dezimierung der gegnerische Flotte und die Gewinnung einer starken Rohstoffbasis in Südostasien, um dann zu einem Ausgleich mit den USA kommen. Roosevelts Kriegsziel lag in der Niederwerfung Deutschlands und der Entmachtung Großbritanniens; er riskierte den Zusammenstoß mit Japan, um über diesen Umweg mit Deutschland in Kriegszustand zu geraten.

Mit der Wende vor Moskau im Dezember 1941 und dem japanischen Überfall auf die amerikanische Flotte in Pearl Harbor hatte der Krieg weltweite Dimensionen angenommen. Auch die zweite Flügelmacht war nun voll am Krieg beteiligt, auch wenn sie ihre Anstrengungen zunächst auf Japan konzentrierte. Die deutsche Kriegserklärung an Washington folgte der Einschätzung, daß es ohnehin früher oder später zum Krieg mit den USA gekommen wäre und daß zunächst Japan die Hauptlast zu tragen hätte.

Die Staaten des Dreimächtepaktes begingen 1942 einen zweiten strategischen Fehler: Sie bündelten nicht ihre Kräfte, sondern führten einen Parallelkrieg, indem Deutschland in Rußland und Japan im Pazifik offensiv wurde. Der sogenannte "Große Plan" der Seekriegsleitung vom Februar 1942, gemeinsam mit Japan die britischen Positionen in Ägypten und im Mittleren Osten anzugreifen, wurde nicht verwirklicht, da die deutsche Führung auf eine Verlagerung des Schwergewichts verzichtete.

Die Wehrmacht wechselte im Sommer 1942 im Osten von der Niederwerfungs- zur Ermattungsstrategie, während die japanische Strategie nach der Niederlage in der Seeschlacht bei Midway am 4. Juni nur mehr geringe Erfolgschancen besaß. Beide Staaten kämpften in der Folge nur mehr um die Festigung ihres Machtbereiches, was ihre strategische Schwäche bekundete. Die deutsche Führung wollte die Verschlechterung der Lage im Herbst 1942 nicht anerkennen, obwohl sich bei Stalingrad, im Kaukasus sowie vor El Alamein eine Kriegswende abzeichnete. Sie verfolgte noch Ende 1942, als diese Wende bereits eingetreten war, offensive Ziele.

Das Kriegsziel der Sowjetunion bestand anfangs bloß darin, den Fortbestand des Regimes und des Staates zu retten. Erst nach der Wende vor Moskau verschob sich das Ziel dahingehend, daß man den Besitzstand vor dem 22. Juni 1941 zurückgewinnen wollte; es bestand auch die Möglichkeit eines Sonderfriedens mit Deutschland, da man die Hauptlast des Krieges zu tragen hatte. Erst der Umschwung der Lage und die Verzögerung der "zweiten Front" in Westeuropa bestärkten Stalin, seine Ziele ohne Rücksicht auf die "befreiten" Nationen weit nach Westen vorzuschieben.

Ab 1943 Unterwerfung und Bestrafung als Kriegsziel

Anfang 1943 veränderten die Westalliierten ihre Kriegsziele wesentlich, indem sie nicht mehr die Entmachtung Deutschlands und die Rückkehr zu den Verhältnissen vor dem 1. September 1939 anstrebten, sondern auf vernichtende Unterwerfung und rigorose Bestrafung des Gegners abzielten. Die Kriegführung wurde deutlich von moralisierenden Zügen geprägt. Die Forderung nach bedingungsloser Kapitulation und die Weisung zum uneingeschränkten Luftkrieg schlossen jede Möglichkeit eines Verhandlungsfriedens aus. Wollten die Achsenmächte weiterkämpfen, würden sie entsetzliche Schläge in Kauf nehmen müssen. Der ab Frühjahr 1943 eskalierende Bombenkrieg nahm an vielen Stellen Vernichtungscharakter gegenüber der Zivilbevölkerung an. Das britische Bomberkommando plante sogar, so große Zerstörungen in Deutschland anzurichten, daß man den Krieg auch ohne Invasion in Frankreich gewinnen könnte.

Nachdem die Alliierten im Frühjahr 1943 in der Atlantikschlacht gesiegt und ihre Angriffe gegen die "Festung Europa" begonnen hatten, wurde deutlich, daß die Achsenmächte viel zu spät zur Defensive übergegangen waren. Die Schlacht um Kursk im Juli 1943 begrub die deutschen Hoffnungen auf einen begrenzten Sieg. Trotz einiger Abwehrerfolge erlitt die Wehrmacht in der Folge an der Ostfront so schwere Rückschläge, daß ein strategisches "Remis" außer Reichweite geriet. Auch die Chance eines Separatfriedens mit Stalin blieb ungenutzt.

Auf seiten der Westalliierten war man sich über die Strategie zunächst uneinig: Während die amerikanische Seite den direkten Angriff gegen Westeuropa mittels einer Invasion befürwortete, lehnte dies der britische Generalstab aus Vorsicht ab; er plädierte zunächst für eine Eroberung Italiens eine Landung im Süden. Der Kompromiß bestand in einer Verschiebung der Invasion in Frankreich auf das Frühjahr 1944, was die Beziehungen zu Stalin schwer belastete. Die mit überwältigender Übermacht geführte Landung in der Normandie im Juni 1944 sowie die katastrophalen Niederlagen des Ostheeres im Sommer 1944 bewirkten, daß der Krieg für Deutschland so gut wie verloren war. In Japan brachte die Schlacht um die Philippinen im Herbst 1944 die endgültige Entscheidung.

Die letzte deutsche Offensive in den Ardennen setzte nochmals alles auf eine Karte, vernachlässigte aber dafür andere Fronten. Der mißlungene Angriff hatte zur Folge, daß die sowjetische Generaloffensive im Januar 1945 auf eine geschwächte Ostfront stieß und diese rasch zertrümmerte, was das Kriegsziel Stalins sehr begünstigte.

Zusammenfassend fällt auf, daß die Kriegsziele der beteiligten Hauptmächte mit Ausnahme Japans im Zuge der Ereignisse wesentlichen Veränderungen erfuhren. Hauptanteil daran hatte der kompromißlose Widerstand Großbritanniens ab Sommer 1940, der den Krieg ausweitete; dies diente keineswegs den deutschen Interessen, war jedoch für die Flankenmacht USA von Vorteil. Wenn auch manche Historiker der Führung in Berlin globale Herrschaftsansprüche zuschrieben, so plante die deutsche Strategie weder die Vernichtung des britischen Reichs noch einen Angriff gegen die USA.

Während die britische Strategie als Endziel die Niederringung Deutschlands anstrebte, nahm die deutsche Strategie eine Kehrtwendung gegen die Sowjetunion vor, da man in ihr eine ernsthafte Rückenbedrohung erblickte. Diesem Doppeldruck wollte man durch Eröffnung des Zweifrontenkrieges entgehen, ohne aber die dafür nötigen organisatorischen und materiellen Voraussetzungen zu schaffen. Die Wende vor Moskau markierte das Ende einer Strategie, die auf die Zerschlagung der UdSSR ausgerichtet war. Man ging zur Ermattungsstrategie über, wobei aber die Wehrmacht bei der Verteidigung der 1942 gewonnen Positionen überfordert wurde. Überdies leistete man sich den strategischen "Luxus" eines Parallelkrieges mit Japan.

Demgegenüber erfuhren die Kriegsziele der Westalliierten, denen sich mit Vorbehalt auch die Sowjetunion anschloß, einen wesentlichen Wandel: Es ging nicht mehr darum, die Deutschen zur Abtretung besetzter Gebiete oder zur Leistung von Reparationen zu zwingen, sondern der Krieg nahm ab Anfang 1943 den Charakter eines Kreuzzuges mit dem Ziel einer totaler Unterwerfung des Gegners an. Allen Beteiligten unterliefen arge strategische Fehler, die aber seitens der Alliierten viel weniger ins Gewicht fielen.

Niederlage konnte schließlich nur verzögert werden

Der deutschen Seite gelang es längere Zeit, ihre Nachteile durch soldatische Tüchtigkeit und wendige Führung auf operativer Ebene auszugleichen in der Absicht, diese Erfolge in einen strategischen Sieg umzuwandeln. Doch schließlich gaben Fehlentscheidungen der obersten Führung und die Übermacht der Gegner den Ausschlag. Entscheidungen über Sieg oder Niederlage fallen auf geistiger Ebene, lange bevor sie auf dem Kriegsschauplatz sichtbar werden.

Foto: Winston Churchill bei einem improvisierten Picknick am Ufer des Rheins mit Feldmarschall Bernard Law Montgomery (re.) und Feldmarschall Alan Brooke, März 1945: Der Krieg nahm ab Anfang 1943 seitens der Alliierten den Charakter eines Kreuzzuges an

 

Dr. Heinz Magenheimer ist Militärhistoriker und lehrt an der Landesverteidigungsakademie Wien und an der Universität Salzburg. Der Artikel bezieht sich auf sein jüngstes Buch (Kriegsziele und Strategien der großen Mächte 1939-1945. Osning-Verlag, Bonn 2006, 231 Seiten, Karten, 7 mehrfarbige Kartenskizzen, 27 Euro)


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