© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 24/06 09. Juni 2006

Neue Dimensionen der Verstrickung oder Stoff zur Relativierung
Forschung: Zur Öffnung des Bad Arolser Archivs des Internationalen Roten Kreuzes über die Insassen deutscher Arbeits- und Konzentrationslager
Stefan Scheil

Es scheint wieder einmal geschafft zu sein. Nach einem Jahrzehnt des Tauziehens wird das Archiv des Internationalen Roten Kreuzes in Bad Arolsen wohl für unbeteiligte Interessenten geöffnet werden. Wer genau an welchem Tau gezogen hat, bleibt dagagen vorläufig reichlich unklar. Volkhardt Knigge, der Leiter der Gedenkstätte Buchenwald, zeigte sich in einer ersten Stellungnahme vornehm enttäuscht. "Ich bin sauer darüber, daß man so viele deutsche Überlebende, aber auch Historiker immer wieder hat abblitzen lassen. Und wenn in Amerika mit dem Finger geschnippt wird, dann gibt es offenbar brachiale Entscheidungen in Hochgeschwindigkeit", sagte er im Deutschlandradio.

Etikettierung als "Holocaust-Archiv" ist unzutreffend

Geschnippt wurde in der Tat, und einmal mehr wurde international, ja sogar gegenüber der deutschen Öffentlichkeit erfolgreich der Eindruck erweckt, die deutsche Regierung wollte etwas verstekken und sei nun durch das Ausland zur Offenbarung gezwungen worden. Vor diesem Hintergrund zeigte sich Knigge verwundert, daß die Bundesjustizministerin Brigitte Zypries (SPD) sich öffentlich auf den Standpunkt stellte, es hätte an der deutschen Seite gelegen, daß das Archiv bislang nicht geöffnet worden sei. Bisher habe es immer geheißen, daß eine Öffnung von der Elf-Länder-Kommission nicht zugelassen worden sei, die das Archiv beaufsichtigt. Knigge fragte sich daher, warum eine Öffnung nicht schon früher erfolgt sei.

Der Grundstock für das Archiv in Arolsen geht noch auf die Kriegszeit zurück. Es sammelt seit Jahrzehnten Daten über Personen, die aus irgendeinem Grund ins Lagersystem des Nationalsozialismus gerieten und dort Zwangsarbeit leisten mußten, in Haft waren oder ermordet wurden. Die Daten sind vertraulich, auf Anfrage ergingen aber stets Auskünfte an Familienangehörige. Humanitäre Anliegen wurden also zu jeder Zeit erfüllt, politische dagegen nicht. Die bundesweit in der Presse erfolgte Etikettierung als "Holocaust-Archiv" ist ebenso schlagkräftig wie unzutreffend, denn der erfaßte Personenkreis ist vollkommen heterogen und umfaßt vom Kleinkriminellen über den Kriegsgefangenen und den Zufallshäftling bis hin zum politisch oder rassisch Verfolgten das gesamte Spektrum der Lagerhäftlinge.

An der Bundesrepublik und ihren Bedenken über Datenschutz hat die Verzögerung der Öffnung wohl kaum gelegen, da muß man Knigge zustimmen. Derartiges liegt jenseits des Willens oder auch nur der Phantasie der hierzulande geschichtspolitisch Verantwortlichen. Ohnedies wird seit Jahren auf deutsche Kosten an jener Digitalisierung der Bestände gearbeitet, die jetzt die Öffnung überhaupt erst sinnvoll werden läßt. Mit Ulrich Herbert gestattete sich daher einer der prominenteren deutschen Zeitgeschichtsforscher die allzumenschliche Deutung, das personell gut ausgestattete Haus Arolsen habe auf Zeit gespielt, weil es bei der Öffnung seine Übernahme ins Bundesarchiv samt entsprechendem Personalabbau gefürchtet habe.

Der Leiter der Forschungsstelle im Holocaust Memorial Museum in Washington, Paul Shapiro, wies dennoch sicherheitshalber darauf hin, "daß die wissentliche Unterschlagung von Dokumenten zum Holocaust eine Form ist, den Holocaust zu leugnen". Vor diesem Hintergrund kann man nur annehmen, daß die US-Regierung nichts über den Inhalt der nach seriösen Schätzungen vielen hunderttausend Seiten von Dokumenten bis zu 17 Millionen Betroffenen an Dokumenten aus der Kriegszeit weiß, die sie weiter unter Verschluß hält.

Die fortdauernde Schließung des Archivs in Arolsen für öffentliche Anfragen hat in den letzten Jahren in jedem Fall zunehmend zu Spekulationen über seinen möglichen Inhalt geführt. Es gibt die Erklärungsvariante, durch die Öffnung solle die Aufdeckung neuer Tätergruppen und Zusammenhänge gefördert werden. Stephan J. Kramer, Generalsekretär im Zentralrat der Juden in Deutschland, ließ sich im Vorfeld entsprechend zitieren: "Es hat in den letzten Jahren gerade durch Öffnung von Archiven in Zentral- und Osteuropa erhebliche neue Aktenbestände gegeben, die jetzt vor allem aus privaten Wirtschaftsunternehmen und privaten freiberuflichen Sektionen in das Arolsener Archiv mittlerweile abgegeben worden sind. Und wir gehen momentan davon aus, daß all dieses Material, das bisher weder gesichtet worden ist noch tatsächlich der Forschung zur Verfügung gestellt wurde, uns einen neuen Einblick geben wird über die Tiefe eben der Verstrickung von privatwirtschaftlichen und freiberuflichen Akteuren während der Nationalsozialistenzeit."

Elf Länder müssen den Beschluß erst ratifizieren

Ob die Öffnung schließlich diesen oder sonst irgendeinen Effekt haben wird, der zu dem vorangegangenen Gezerre in einer nachvollziehbaren Größenordnung steht, bleibt dennoch zweifelhaft. Noch ist auch gar nichts geöffnet, sondern nur ein komplizierter Rechtssetzungsprozeß eingeleitet, der sich noch unbestimmte Zeit hinziehen kann, denn die Staaten der bisherigen Kontrollkommission müssen die neue Rechtslage zum Teil formal ratifizieren, wenn sie denn einmal formuliert sein sollte. Da das Datenschutzproblem zuvor noch zu diskutieren ist, kann dies unbestimmte Zeit dauern. Immerhin, wenn so viele Instanzen und so bedeutende Institutionen wie die Regierung der USA ein entschiedenes Interesse an der Öffnung hatten, wird es dafür einen Grund geben, der in nicht allzu langer Zeit auch der breiteren Öffentlichkeit zur Kenntnis gegeben werden wird. Spekulationen über den Inhalt sind inzwischen weiter erlaubt.


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