© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 25/06 16. Juni 2006

Werner Herbig
Das ganze Deutschland
von Christian Vollradt

Zufrieden mit der offiziellen Würdigung des Volksaufstandes in der damaligen DDR ist Werner Herbig nicht; der Gersdorf bei Görlitz geborene 88jährige Gründer und Vorsitzende des Arbeitskreises "17. Juni 1953" beklagt, daß den Widerstandskämpfern und Opfern von damals zuwenig Anerkennung zuteil wird, daß man nach "runden" Jubiläen schnell zur Tagesordnung übergeht und daß mit dem Verschwinden des früheren Tags der Deutschen Einheit auch die Erinnerung an das Geschehen verblaßt. Dies ist enttäuschend vor allem für die Betroffenen, die sich wie Herbig auch im hohen Alter noch an alle Details erinnern.

Am 17. Juni 1953 will sich der durch Schulterdurchschuß im Krieg schwer Verwundete im Polizeipräsidium von Görlitz seinen Versehrtenausweis verlängern lassen, als alle Zivilisten aus dem Gebäude geschickt werden und die Volkspolizisten mit Marschgepäck und Stahlhelm antreten. In der Stadt begegnet Herbig dann ein Zug demonstrierender Arbeiter des Eisenbahnwerkes LOWA. Er schließt sich an, marschiert mit in der ersten Reihe zum Rathaus. So zufällig dieses Engagement auch für Herbig begann, in Opposition zum kommunistischen Regime war er schon früher geraten: Der gelernte Pflanzenschutztechniker sollte öffentlich bestätigen, daß die USA Käfer über der DDR abgeworfen und damit die damals grassierende Kartoffelkäferplage ausgelöst hätten. Weil er sich weigerte zu lügen, wurde Herbig entlassen.

In Görlitz können die Aufständischen am 17. Juni die Macht übernehmen, geführt von einem zusammengewürfelten Komitee, dem auch Herbig angehört. Stadtrat und Oberbürgermeister werden in den Sitzungssälen festgehalten, Offiziere der Staatssicherheit entwaffnet und nach Hause geschickt. Es gelingt den Streikführern eine unbewaffnete Einwohnerwehr zu bilden. Die Parolen des Tages richten sich gegen die SED und für die Wiedervereinigung - vor allem der geteilten Heimatstadt Görlitz. So daß dort - eine Besonderheit - auch die Revision der Oder-Neiße-Grenze gefordert wird! Am frühen Abend greifen jedoch die Sowjets mit einem Schützenbataillon ein und verhaften willkürlich "Rädelsführer". Doch das Schlimmste, so Herbig, begann mit der Überstellung an die Staatssicherheit: Folter mit Knüppel und Stromstößen. Drei Jahre muß er absitzen, mit dem gelben X der "17er" auf dem Rücken.

Nach der Entlassung gelingt ihm 1956 die Flucht nach West-Berlin. Hier arbeitet er später in der Archivverwaltung, im "Kuratorium unteilbares Deutschland" und unterstützt ehemalige Mitstreiter bei der Anerkennung ihrer Haftfolgen vor bundesdeutschen Behörden. Historikern bietet er mit seinem umfangreichen Privatarchiv reichhaltige Quellen. Nur Berlins Schulsenator Klaus Böger verzichtet auf soviel Zeitzeugenschaft. Einen Brief Werner Herbigs mit dem Angebot, vor Schülern zu referieren, ließ SPD-Mann unbeantwortet.


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