© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 25/06 16. Juni 2006

Reporter ohne Furcht und Tadel
Kritische Berichterstattung: Tim und sein Hund Struppi durchschauten den Kommunismus von Anfang an
Karlheinz Weißmann

Wie man der Presse entnehmen konnte, hat die Fondation Hergé, die das Erbe des belgischen Zeichners Hergé (eigentlich Georges Rémi) verwaltet, durch den Dalai Lama den Light Truth Award erhalten. Grund dafür war die Entscheidung der Stiftung, eine in chinesischer Lizenz laufende Ausgabe des Albums "Tintin en Tibet" ("Tim in Tibet") zurückzuziehen, weil sie unter dem Titel "Tim im chinesischen Tibet" erscheinen sollte. Die damit einhergehenden finanziellen Verluste wurden hingenommen, um der chinesischen Besatzungspolitik in Tibet keinen Vorschub zu leisten, erklärte die Stiftung.

Die Verwicklung von Tintin - in Deutschland bekannt als "Tim" und normalerweise mit seinem Hund "Struppi" in einem Atemzug genannt - in politische Kalamitäten ist nicht neu. So gab es schon in den dreißiger Jahren Probleme mit Hergés Parteinahme zugunsten der chinesischen Nationalbewegung (in "Der blaue Lotos"), wegen des latenten Antiamerikanismus ("Tim in Amerika") oder der kaum verhohlenen Ablehnung des Anschlusses Österreichs durch das nationalsozialistische Deutschland ("König Ottokars Szepter").

Die nachhaltigste Irritation verursachte aber "Tintin au pays des Soviets" - "Tim im Lande der Sowjets". Es handelte sich dabei um die erste geschlossene Geschichte, die Hergé von dem Reporter Tim erzählte, der in diesem Fall in die Sowjetunion der Zwischenkriegszeit reiste, wo er mit allen Schrecken des kommunistischen Regimes in Berührung kam: Unfreiheit, Terror, Versorgungsmangel, willkürliche Verhaftung, Lager, Exekutionen. Die Zeichnungen erschienen zuerst in regelmäßigen Folgen ab dem 10. Januar 1929 und wurden im August 1930 als Buch veröffentlicht.

Erst vor zwei Jahren hat der Hamburger Carlsen-Verlag eine deutsche Ausgabe unter dem Titel "Tim im Lande der Sowjets" herausgebracht. Der Band wurde den übrigen dreiundzwanzig als Nummer "0" vorangestellt. Schon das ist ein Symptom, ähnlich wie die gewundene Einleitung, in der behauptet wird, Hergé habe sich für die Erzählung auf eine unseriöse "antikommunistische Vorlage" gestützt und später wegen "der undifferenzierten Darstellung der Sowjetunion" Bedenken gegen eine Neuausgabe gehabt.

Damit wird mehr verschleiert als enthüllt. Denn während die Tintin-Gemeinde in Belgien und Frankreich, zu der mehrheitlich Erwachsene zählen, sehr wohl um Hergés politische Biographie weiß, möchte man in Deutschland Tim und Struppi nur als ganz harmloses Comic-Vergnügen präsentieren, das eher Kinderbüchern ähnelt.

Das ist aber nur möglich, wenn man den Zusammenhang außer acht läßt, in dem Tintin ursprünglich stand. Hergé hatte die Figur Ende der zwanziger Jahre für die Brüsseler Tageszeitung Le Vingtième Siècle entworfen und dort auch die Abenteuer in der UdSSR plaziert. Das war ausdrücklich gewünscht von der Redaktion, die katholisch, belgisch-patriotisch und scharf antikommunistisch ausgerichtet war. Diese Orientierung erklärt auch, warum Le Vingtième Siècle in den dreißiger Jahren zum Sprachrohr von Léon Degrelle und dessen "Rexismus" wurde. Der üblichen Einordnung des Mouvement Rex in die Geschichte des Faschismus steht entgegen, daß der Name auf Christus Rex - "Christkönig" - verwies und der Rexismus ursprünglich als katholische Volksbewegung der Frontkämpfer, der Bauern und des Mittelstandes begonnen hatte, die sich gegen die Korruption der Parteien und den flämischen Separatismus wandte. Nur ganz allmählich militarisierte Degrelle das Erscheinungsbild der Rexisten und näherte sie faschistischen Vorbildern an; und den letzten Schritt in diese Richtung machte er unter dem Eindruck des schnellen Zusammenbruchs der Westmächte nach dem deutschen Angriff von 1940.

Degrelle hat 1994, elf Jahre nach dem Tod Hergés, ein Buch unter dem Titel "Tintin, mon copain" veröffentlicht, in dem er sich der Freundschaft des Zeichners rühmte, auf zahlreiche Begegnungen seit dem Ende der zwanziger Jahre verwies und behauptete, er selbst sei das Vorbild für Tim gewesen. Wie weit diese Behauptungen den Tatsachen entsprechen, ist nicht mehr zu klären, sie haben jedenfalls unter den "Tintinologen" eine heftige Debatte über den "faschistischen", "nichtfaschistischen" oder "antifaschistischen" Gehalt der Bildergeschichten ausgelöst.

Fest steht immerhin, daß Hergé die "Neue Ordnung" mit einem gewissen Optimismus begrüßte, aber nach der Besetzung seiner Heimat auf Distanz zum Rexismus und dessen radikaler Kollaboration ging. Auf Widerstand darf man deshalb aber nicht schließen.Hergé arbeitete für den prodeutschen Soir als Zeichner und geriet prompt 1944 in die Mühlen der belgischen Säuberung. Das Arbeitsverbot gegen ihn blieb knapp zwei Jahre bestehen, danach widmete er seine ganze Kraft der Neuausgabe - und Überarbeitung - der Tim-und-Struppi-Geschichten.

"Tintin au pays des Soviets" blieb davon ausgenommen. Unter Sammlern wurde der Band zu einem Mythos, und die Nachfrage stieg entsprechend. Als Hergé sich 1969 zu einem auf fünfhundert Exemplare limitierten Nachdruck entschloß, war auch diese Maßnahme nicht geeignet, dem Problem abzuhelfen. In den siebziger Jahren erschienen zahlreiche Raubdrucke, gegen die Hergé vergeblich vorzugehen suchte. Erst 1981 erlaubte er einen Reprint, der auch in dem ursprünglichen Schwarzweiß gehalten blieb. Das hob ihn ab von den übrigen Tim-und-Struppi-Büchern, für die in der Nachkriegszeit die heute bekannten farbigen Fassungen erarbeitet wurden. Sie verstärken den besonderen Eindruck von Flächigkeit und Konturenschärfe, der schon durch Hergés - schattenlose - ligne claire vorbereitet war. Dieser besondere, wenn man so will: europäische, Stil unterscheidet Hergés Bildergeschichten sowie die seiner zahlreichen Schüler und Nachahmer vom amerikanischen Konzept. Wahrscheinlich auch deshalb fehlt Hergé in der Bibliothek "klassischer" Comics, die von den "Donaldisten" des FAZ-Feuilletons verantwortet wird.

Hergé: Tim und Struppi. Tim im Lande der Sowjets, Carlsen Comics, Hamburg 2004, Neuausgabe, 142 Seiten, 12 Euro.


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