© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 26/06 23. Juni 2006

Kolumne
Soziale Ausgrenzung
Klaus Motschmann

Im Zusammenleben der Menschen spielt das Gesicht eine wichtige Rolle. Es ist der Ausdruck der unverwechselbaren Individualität jedes einzelnen Menschen und vermittelt emotional einen ersten, oft entscheidenden Eindruck von der Persönlichkeit - unabhängig von allen sonstigen, rational begründeten Unterscheidungsmerkmalen. Auch der härteste Gegner kann durch sein Gesicht einen sympathischen Eindruck vermitteln; auch der beste Gesinnungsfreund einen unsympathischen. Das gilt nicht nur für das private, sondern auch für das öffentliche Leben. Ein ungeschriebener Grundsatz politischer Gesittung besagt denn auch, daß man den Gegner die Möglichkeit lassen müsse, sein "Gesicht zu wahren".

Insofern ist der Forderung "Gesicht zeigen" im Ansatz zunächst (!) vollauf zuzustimmen. Tatsächlich werden uns in den Medien in zunehmenden Maße vermeintlich wichtige Aussagen von vermummten oder sonstwie abgedeckten Gesichtern vermittelt. Das widerspricht nicht nur der Parole "Gesicht zeigen", sondern beeinträchtigt auch die Glaubwürdigkeit linker Aussagen erheblich. Aber nicht nur mit dem Zeigen des eigenen Gesichtes hat die politische Linke ihre Probleme, sondern auch mit dem Gesicht des Feindes, des Gegners oder des Andersdenkenden, eben weil das Gesicht Eindrücke vermitteln kann, die sich der ideologischen Kontrolle entziehen und den Propagandaklischees widersprechen. Die Auseinandersetzung mit ihnen zielt ja nicht auf eine sachlich rationale Widerlegung umstrittener Positionen ab, sondern auf die demonstrative Diskreditierung der Persönlichkeits- und Bewußtseinsstruktur des Gegners. "Gesicht zeigen" würde auch in diesem Fall ein Mindestmaß an Respekt vor der persönlichen Würde des Gegners bezeugen, die er aber nach Maßgabe der Ideologen aller Schattierungen nicht verdient. Deshalb wird nicht sein Gesicht gezeigt, sondern die "Visage", die "Charaktermaske", der "Typ", am besten nur Glatzen, Springerstiefel und Bomberjacken. Damit beginnt ein bewusster Prozeß der sozialen Ausgrenzung. Aus dem Gegner werden Orwellsche Unpersonen ohne Gesicht, Nichtse, Niemande. Inzwischen wird schon laut darüber nachgedacht, ob man ihnen nicht zumindest zeitweise die bürgerlichen und politischen Rechte entziehen sollte. Nach einer rabulistischen Interpretation des Grundgesetztes ist das auch möglich. In Artikel 3 heißt es ausdrücklich: "Niemand darf wegen seiner ... politischen Anschauungen benachteiligt werden." Wenn man Menschen auf Dauer und bewußt wie "Niemande" behandelt, kann man sich nach dieser Auffassung sogar auf das Grundgesetz berufen.

 

Prof. Dr. Klaus Motschmann lehrte Politikwissenschaften an der Hochschule der Künste in Berlin.


Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen