© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 26/06 23. Juni 2006

Gegen Marx und Bismarck
Brentanos Autobiographie
Rolf Duske

Wenige Monate nach Abschluß seiner Autobiographie starb 1931 der Münchener Nationalökonom Luja Brentano. Geboren 1844, reichen seine Erinnerungen bis in die Zeit der ersten Eisenbahnen zurück, als es eine deutsche Wirtschaftsnation nur in Friedrich Lists Träumen gab.

Richard Bräu und Hans G. Nutzinger haben Brentanos letztes, heute antiquarisch seltenes wie teures Werk in der um historische Vertiefung der inzwischen völlig mathematisierten Wirtschaftswissenschaften bemühten Reihe "Beiträge zur Geschichte der deutschsprachigen Ökonomie" zu einem moderaten Preis neu herausgegeben. Damit steht ein Zeitdokument wieder zur Verfügung, das zurückführt in die politischen und sozialen Konflikte des Zweiten Reiches, an denen Brentano als katholischer "Kathedersozialist" und "Gelehrtenpolitik" lebhaft Anteil nahm. Die Herausgeber bringen seine Ausnahmestellung in diesen Kämpfen auf den Punkt, wenn sie ihn mit seinen Mitstreitern vergleichen, den Nationalökonomen und Zentralgestalten des um Arbeiterschutz, Koalitionsfreiheit und Demokratisierung ringenden "Kathedersozialismus", den Berliner Professoren Adolph Wagner und Gustav von Schmoller. Sahen diese beiden Preußen im "sozialen Kaisertum" der Hohenzollern das wirksamste Sicherungsmittel für die Monarchie, lag Sozialpolitik für Brentano auf der Linie eines konsequent praktizierten Liberalismus - ein "Sozialliberaler" also, der in heutigen gelb-blauen Zeiten wie ein Fossil wirkt.

Die Verknüpfung von Lebens- und Werkgeschichte beansprucht natürlich viel Raum für die Fachgeschichte der Nationalökonomie, für Details des Karriereweges nebst manchen Fakultätsinterna. Dessenungeachtet ist universitätshistorische Verengung nicht zu fürchten. Brentano vergegenwärtigt ein breites Spektrum politisch-ideologischer Auseinandersetzungen, in die er mit Marx wie mit Bismarck geriet, die ihn im Kampf gegen den Manchesterliberalismus wie für die Wissenschaftsfreiheit zeigen. Der Leser wird so schnell mitten hineingestellt in Verwerfungen, die die "erste Globalisierung" (Cornelius Torp) im "Neuen Reich" auslöste.

Lujo Brentano: Mein Leben im Kampf um die soziale Entwicklung Deutschlands. Metropolis Verlag, Marburg 2005, 518 Seiten, Abbildungen, 28 Euro


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