© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 27/06 30. Juni 2006

LOCKERUNGSÜBUNGEN
Neudichtung
Karl Heinzen

Bundestagsvizepräsident Wolfgang Thierse (SPD) hat in einem Gespräch mit der Berliner Zeitung verkündet, daß er die gegen das Deutschlandlied erhobenen Nationalismus-Vorwürfe für unbegründet hält. Allerdings empfindet auch er ein Unbehagen, das jedoch anderer Natur ist: Für eine Nationalhymne biete das Deutschlandlied "ein bißchen wenig Text". Vielleicht, so Thierses Anregung, könne man es ja um eine zweite oder gar auch dritte Strophe ergänzen. Da Hoffmann von Fallersleben für diese Aufgabe nicht mehr zur Verfügung steht, sind nunmehr andere kreative Köpfe gefordert. Bislang jedoch, klagt Thierse, habe sich leider kein Dichter gemeldet, aber möglicherweise könne man das Problem ja dadurch lösen, daß man einen Wettbewerb ausruft.

Ein weniger komplizierter Weg wäre es natürlich, den Mangel dadurch zu beheben, daß man jene zwei weiteren Strophen, die der ursprüngliche Autor bereits ersonnen hat, wieder als Bestandteil der Nationalhymne begreift. Dazu müßte man lediglich an den Briefwechsel zwischen Konrad Adenauer und Theodor Heuss aus dem Jahr 1952 anknüpfen, der das "Lied der Deutschen" in der Vertonung von Joseph Haydn in allen Strophen als Nationalhymne bestimmte, wobei bei offiziellen Anlässen lediglich die dritte anzustimmen sei. Erst ein neuerlicher Briefwechsel zwischen Helmut Kohl und Richard von Weizsäcker im Jahr 1991 hinterließ jenen Torso, an dessen Kürze sich Thierse nun stößt.

Nicht übersehen werden darf dabei allerdings, daß die beiden ersten Strophen des Originaltextes noch weniger das Lebensgefühl der Deutschen von heute und das Selbstverständnis ihres Staates widerspiegeln als die diesbezüglich noch gerade so eben tolerierbare dritte. Wer nach Versen sucht, die tatsächlich reinen Herzens in Parlamenten und Schulen, auf Parteitagen, Gewerkschaftsversammlungen und Arbeitgeberkongressen gesungen werden könnten, muß tatsächlich eine Neudichtung betreiben. In ihr sollte alle Prahlerei unterbleiben und eine Ausnahmestellung der Deutschen lediglich reklamiert werden für die Einzigartigkeit der Schuld, die sie auf sich geladen haben. Ansonsten wäre der inhaltliche Schwerpunkt auf das Bekenntnis zu universellen Werten wie Glück, Frieden, Menschenrechte und Vollbeschäftigung zu legen. Da es sich folglich nicht um eine "Nationalhymne" im antiquierten Sinn handeln würde, wäre zu überlegen, ob der Text unbedingt auf deutsch verfaßt werden muß. Türkisch wiederum wäre eine nette Geste, aber doch etwas zu provinziell. Und wie wäre es mit Englisch?


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