© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 27/06 30. Juni 2006

Von den Geburtswehen einer "Bürgergesellschaft"
Gereifte Alt-68er deuten im Sammelband des Soziologen Niels Beckenbach die Entwicklung Deutschlands zur zivilgesellschaftlichen Republik
Dag Krienen

Ein Buch über die "Wege zur Bürgergesellschaft" mit dem Untertitel "Gewalt und Zivilisation in Deutschland Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts" läßt zunächst vermuten, daß hier wieder einmal die Umwandlung des alten autoritär-militaristischen Deutschlands in eine zivilgesellschaftliche Republik gefeiert werden soll. Allenfalls bemerkenswert erscheint, daß der aus dem angloamerikanischen Raum übernommene Terminus "Zivilgesellschaft" als "Bürgergesellschaft" eingedeutscht wurde. Dieser Begriff steht für eine politische Kultur, die sich als republikanisch-emanzipatorisch versteht und auf einer institutionellen staatlichen Gewaltenteilung mit garantierten Bürgerrechten sowie einer kritischen Öffentlichkeit samt "bürgerschaftlichem" Engagement beruht. Und die vor allem gewaltabstinent ist, das heißt in der die politischen Kräfte auf eine gewaltsame Durchsetzung ihrer Ziele verzichten.

Daß der Herausgeber des hier zu besprechenden Bandes, der Kasseler Soziologieprofessor Niels Beckenbach (Jahrgang 1941), eine solche "Bürgergesellschaft" für eine unhintergehbare politische Errungenschaft hält, daran läßt er in seinen eigenen Beiträgen - dem kurzen Editorial, einem einleitenden Essay über Gewalt und Modernität in der deutschen Mentalität im 20. Jahrhundert, einem Analyseversuch zur Genese des RAF-Terrorismus und seiner abschließenden "Deutschland-Chronik (1949-1999). Unter besonderer Würdigung der 1968er-Bewegung" - keinen Zweifel.

Allerdings hält der Band einige angenehme Überraschungen bereit. Dazu zählt, daß er sich schwerpunktmäßig mit der linken Gewalt in Deutschland in der zweiten Hälfte (der Untertitel des Bandes ist irreführend) des letzten Jahrhunderts beschäftigt. Ganz auf den Topos "Nationalsozialismus und seine üblen Folgen" wird natürlich nicht verzichtet; der die bekannten Argumentationen seines Autors repetierende Beitrag Ralph Giordanos über die Kontinuität des Antisemitismus im Nachkriegsdeutschland steht dafür. Doch die Masse der im Band versammelten Texte beschäftigt sich mit den Ursachen und Formen der staatlichen Gewalt des zur Herrschaft gelangten Kommunismus in der DDR und der terroristischen Gewalt der Roten Armee Fraktion und verwandter Gruppen im Westen Deutschlands.

Bei diesen Beiträgen, soweit sie nicht vom Herausgeber selber stammen, handelt es sich um persönliche, durch wenige Fragen Beckenbachs strukturierte Lebenserinnerungen von Zeitzeugen, die in der Mehrzahl ebenfalls zu dessen Alterskohorte gehören. Selbst wer die politischen Prämissen des Herausgebers nicht teilt, kann bei ihrer Lektüre manche Einsichten gewinnen. Sie stellen jedenfalls nicht ganz unbeachtliche autobiographische Quellen zur Zeitgeschichte dar und rechtfertigen schon deshalb die Entscheidung des Verlages, den Band in seiner Reihe "Zeitgeschichtliche Forschungen" zu publizieren. Besonders empfohlen seien hier der Beitrag von Hermann Kreutzer, dem Zeitzeugen zweier Diktaturen, von Ehrhart Neubert über die Rolle der Kirchen in der DDR, von Manfred Kittlaus über Straßengewalt und Terrorismus in Berlin aus der Sicht der Polizei sowie die Jugenderinnerungen von Bettina Röhl nicht nur an ihre Mutter Ulrike Meinhof, sondern vor allem an die späteren Begegnungen dieser 1962 "Nachgeborenen" (wie sie der Herausgeber in seinem Editorial bezeichnet) mit den Angehörigen der 68er Generation.

Der Ausgangspunkt für Beckenbachs eigene, sich analytisch verstehende Beiträgen ist die These von einem deutschen Sonderweg bei der Etablierung einer "Bürgergesellschaft", wobei er allerdings einige interessante Akzentuierungen vornimmt. Vor allem verweigert er einer Reihe von linken Traditionen die Anerkennung als legitime Vertreter des zivilgesellschaftlichen, auf allgemeine Teilhabe und Gewaltabstinenz gerichteten Ethos. So sei bereits in der Theorie von Marx und Engels eindeutige eine Selbstermächtigung eines geschlossenen Männerbundes zur unbegrenzten Gewaltanwendung um eines utopischen Zieles willen enthalten.

Auch der "Geburt der RAF aus dem Wahn" liege eine solchen Selbstermächtigung einer eingebildeten Avantgarde zugrunde, die dazu führte, daß sich diese Gruppe immer mehr in eine von der realen Welt abgekoppelten Selbstisolation begab, die am Ende auch zur Selbst-Tötung führte. Den immer noch auf der Linken verbreiteten Mythos, wonach die RAF-Mitglieder von den unerträglichen gesellschaftlichen Verhältnissen und einem repressiven Staat quasi gegen ihren Willen in den Untergrund und den Terrorismus getrieben worden seien, wird damit eine klare Absage erteilt.

Die RAF war für Beckenbach keine durch äußeren Druck irregeleitete, randständige Erscheinungsform einer breiten zivilgesellschaftlichen Emanzipationsbewegung. Zwar geht auch er davon aus, daß erst durch Pop-Kultur und die bürgerrechtlichen Bewegungen seit Mitte der sechziger Jahre die latenten antizivilgesellschaftlichen Widerstände in Westdeutschland endgültig aufgebrochen worden seien. Aber in dieser Umbruchssituation seien die alten deutschen autoritär-gewaltsamen Traditionen aus der Zeit vor 1945, diesmal auf der Linken und vor allem bei der RAF, noch ein letztes Mal zum Zuge gekommen. Die RAF erscheint in dieser Perspektive nur noch als ein anachronistischer Hemmschuh bei der endgültigen Stabilisierung einer Bürgergesellschaft in Westdeutschland, die - aufgrund der Irritationen durch den linken Terrorismus in den Siebzigern - erst zehn Jahre später endgültig gelungen sei.

Man kann den Band als den Versuch begreifen, aus der Perspektive eines gereiften Altachtundsechzigers eine Demarkationslinie gegenüber jenen Traditionslinien auf der Linken zu ziehen, die auf Selbstermächtigung zur gewaltsamen Durchsetzung politischer Utopien ausgehen. Von daher verdient er auf jeden Fall Interesse auch von den seiten jener, die den Segnungen der Bürgergesellschaft immer noch nicht ganz trauen.

Aber es liegt hier auch eine subtile Exkulpation des, wie Beckenbach in seiner Deutschland-Chronik festhält, 1998 durch "Gründung der rot-grünen Koalition unter Gerhard Schröder und Joschka Fischer" in Deutschland zur "Staatsraison" gewordenen "bürgerschaftlichen Geistes" vor. Denn SED-Herrschaft und RAF-Terrorismus waren demnach nie die andere Seite diese Geistes, sondern nur Produkte historischer Verwerfungen aus dem deutschen Sonderweg in die Moderne. Damit ist nun endgültig Schluß, und wir können uns in ungetrübter Freude dieser neuen Staatsraison, die durch den Regierungswechsel im letzten Jahr nochmals ratifiziert worden ist, als finaler Errungenschaft erfreuen. Denn Deutschlands Geschichte ist nun zu einem glücklichen Ende geraten. Oder geht die Geschichte weiter, und es ist nur die deutsche Geschichte, die "bürgergesellschaftlich" an ihr Ende gerät?

Niels Beckenbach (Hrsg.): Wege zur Bürgergesellschaft. Gewalt und Zivilisation in Deutschland Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts (Zeitgeschichtliche Forschungen, Bd. 26). Duncker & Humblot, Berlin 2005, 310 Seiten, broschiert, 34 Euro


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