© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 28/06 07. Juli 2006

Dem Geist verpflichtet
Dichtung und Politik: Gottfried Benn als Zeitzeuge im Gegenglück
Manfred Hoffmann

Wer immer mitverdient an der profitablen Benn-Vermarktung: Stets hat "1933" der Spaß aufzuhören. Denn wo des Autors "Irrtum" einsetzt, muß man Gesicht zeigen. Auch wenn es ewig verschwitzt ist wie das Antlitz Klaus Theweleits, der den ganzen Benn als "Nazi" verschrotet, oder wenn es im Zigarettenqualm verschwindet wie das von Fritz J. Raddatz, wenn er über die "ruchlosen" Reden und Aufsätze von 1933/34 (Literarische Welt vom 29. April 2006) lamentiert.

Inmitten dieses ritualisierten Geheuls nachgeholten Widerstands fällt die vorsichtig "revisionistische" Biographie Joachim Dycks über den "Zeitzeugen Benn" angenehm auf. Dabei stützt er sich auf zahlreiche inzwischen edierte Briefwechsel Benns. Dessen "Eckermann" Walter Lennig standen sie 1962 noch nicht zur Verfügung. Trotzdem gelang ihm damals in Rowohlts Bildmonographien eine Präparation des politischen Benn, der Dyck - dem Lennig, obwohl zitatenreicher und zeitgeschichtlich ungleich detaillierter, keine Erwähnung wert ist - keine fundamental neuen Einsichten hinzufügt. Da Rowohlt aber Lennigs Arbeit, heute der "Apologetik" verdächtig, soeben durch eine neue Monographie ersetzte, ist Dyck im tonangebenden Moralistenpulk der einzige Interpret, der sich mit historiographischer Sensibilität dem Verhältnis vom Ästhetik und Politik bei Benn nähert.

Glücklich schon der Einfall, Benns Zeitzeugenschaft mit dem epochalen Krisenjahr 1929 zu beginnen. Dyck entfaltet dabei das gesamte politisch-ökonomische Miseretableau, wie es sich Dr. med. Benn, dem im "Milieu" Berlin-Kreuzbergs ums Existenzminimum kämpfenden Facharzt für Haut- und Geschlechtskrankheiten, darbot. So werden seine Deutungs- und Handlungsspielräume ausgeleuchtet. Eine publizistische Fehde mit literarischen Moskauern wie Werner Hegemann dient Dyck, um Benns weltanschauliche Positionen zu markieren, die schon vor 1914 erkennbar sind, die sich seit 1929 aber politisch konkretisieren und von da an über 1933 und 1945 hinaus kaum Korrekturen erfahren.

1929 kämpfte er in Berlin ums Existenzminimum

Eine linke Option war ihm demnach stets unmöglich. Wer wie der Naturwissenschaftler Benn von der Sinnlosigkeit der Geschichte überzeugt war, konnte keine Hoffnung an marxistische Parteien des "Fortschritts" knüpfen. "Benns Beharren" so Dyck, "auf der Grauenhaftigkeit dieser Welt diffamiert alle Gedanken an gesellschaftliche Veränderungen als oberflächliche Hirngespinste eines geschichtsphilosophischen Materialismus aus der Mitte des vorigen Jahrhunderts, der völlig veraltet und reaktionär wie die Ideen des Kommunismus sei". Mit ähnlicher nihilistischer Konsequenz verwarf er den "globalen Kapitalismus", Demokratismus und "Amerikanismus": "die Philosophie des rein utilitaristischen Denkens, des Optimismus à tout prix, des 'keep smiling'" - so Benn 1928.

Warum bei soviel Geschichtspessimismus dann 1933 der Einsatz für den "Neuen Staat"? Weil er noch einmal investieren wollte. Und zwar in den Glauben, die in Ost und West heraufkommende Weltherrschaft "biologischer Minusvarianten" sei in der deutschen Mitte eine Zeitlang aufzuhalten. Dycks Textanalysen belegen, daß dieses Engagement nirgends auf "platte Nazipropaganda" hinausläuft. Die üblichen Anklagen gegen den "Opportunisten" Benn, der die NS-Eugenik geistig vorbereitet, die "Säuberung" der Preußischen Akademie der Künste besorgt, die Emigranten verhöhnt habe - davon bleibt nach genauer Lektüre und akribischer Rekonstruktion kulturpolitischer Abläufe der "nationalen Revolution" wenig übrig.

Dyck betont das Trennende. Benn sei nie in der NSDAP gewesen. Seine "Antwort an die literarischen Emigranten" könnte auch aus dem Sommer 1932 stammen. George Grosz, 1932 aus finanziellen Gründen in die USA ausgewandert, habe Benn 1933 zugestimmt: Den Nationalsozialismus als "Kulturbarbarei" zu diffamieren, sei wirklich "dummes Zeug". Benn distanzierte sich von "mechanischen Auffassungen" der NS-Eugenik. Es gab für ihn auch nie ein "Judenproblem". Nicht bei ihm, in Thomas Manns Tagebuch finde sich nach dem 30. Januar 1933 die kühle Notiz: Die "Entjudung der Justiz" sei wohl kein Unglück. Eine "unreflektierte Reflexion des Geschehens" sei in Benns Tagesproduktion von 1933/34 nicht zu entdecken. Gegen die Zudringlichkeit des Politischen gab er die Autonomie der Kunst nicht preis. Im Umfeld des enthusiastischen Aufbruchs wirke er daher "eigenbrötlerisch und verloren".

Als ihm die Unvereinbarkeit seines "privaten Nationalsozialismus" mit der politischen Praxis des Regimes klargeworden sei, spätestens im Herbst 1933, habe er sich aus der Öffentlichkeit zurückgezogen. Seit 1935 Militärarzt, fanden sich - wie schon vor 1933 amoklaufende Denunzianten von links - nun 1936 SS-Kreaturen, die ihn bis zur "Vernichtung seiner Existenz" verfolgen wollten. Solche "überparteilichen" Haßkampagnen zieht auf sich, wer wie Benn die Politik auf das Gegenglück, den Geist, verpflichten will.

Siegfried Dyck: Der Zeitzeuge. Gottfried Benn 1929-1949. Wallstein Verlag, Göttingen 2006, gebunden, 463 Seiten, 39,90 Euro.

Foto: Gottfried Benn am Mikroskop: Mediziner aus Leidenschaft


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