© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 29/06 14. Juli 2006

Opferzahlen bleiben im dunkeln
Dresden: Stadtrat verweigert Historikern Geld für Fortsetzung der Forschungsarbeit / Kommissions-Vorsitzender Müller bittet Land um Hilfe
Matthias Bäkermann

Wir waren wie vom Schlag getroffen. Das Ergebnis kam für uns völlig überraschend." Rolf-Dieter Müller, dem Vorsitzenden der Dresdner Historikerkommission zur Bestimmung der Opferzahlen der anglo-amerikanischen Bombenangriffe vom 13. und 14. Februar 1945, ist der Zorn über die Entscheidung des Finanzausschusses des Dresdner Stadtrates anzumerken. Dieser hatte Ende Juni entschieden, der Kommission die Mittel für ihre weitere Arbeit zu verwehren.

Es ging um 200.000 Euro, die eine Koalition aus CDU, FDP, Bürgeraktion und SPD gegen die Stimmen von Grünen und PDS den Wissenschaftlern nun sperrt, um deren Forschung fortzusetzen - das Geld werde, so die Stadtverordneten, für die laufenden Kosten der Schwimmbäder in der sächsischen Hauptstadt benötigt. Das hält Müller, der hauptberuflich die wissenschaftliche Leitung des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes (MGFA) in Potsdam innehat, für eine Schutzbehauptung. "Die Entscheidung ist in vielerlei Dingen politisch motiviert", sagt er der JUNGEN FREIHEIT. Der finanzielle Aspekt sei zwar schmerzlich, aber zweitrangig. "Entscheidender ist, daß uns mit der Mittelstreichung gleichzeitig auch das politische Mandat entzogen wurde. Wir sind momentan politisch am Ende." Die Motivation der Kommunalpolitiker macht er vor allem an der Abneigung gegen die Person des suspendierten Oberbürgermeisters Ingo Roßberg (FDP) fest. Seit etwa zwei Monaten muß sich Roßberg einem Strafverfahren wegen Untreue, Vorteilsnahme und Beihilfe zum betrügerischen Bankrott stellen (JF 25/06). Die Kommission war eine Idee des 45 Jahre alten FDP-Politikers, der damit "rechtskonservativen und neonationalsozialistischen Kreisen den Wind aus den Segeln nehmen" wollte - womit er die "dreiste und gefährliche Instrumentalisierung" einer im Umlauf befindlichen sechsstelligen Opferzahl meinte.

Bestimmung der Variablen x

Gleich zu Beginn der Arbeit der Forscher erwies er diesen einen Bärendienst. Geradezu erleichtert über die geringere Dimension der von der sächsischen NPD-Fraktion als "Bombenholocaust" dargestellten Katastrophe vom Februar 1945 posaunte er die Zahl von 25.000 heraus und warf damit ein schlechtes Licht auf die Wissenschaftlichkeit der Kommission. Vielen Kritikern lag der Verdacht nahe, daß die Kommission unter dieser politischen Präjudizierung nur mehr der Wunschzahl des Bürgermeisters das Futter andienen und dazu eine wissenschaftliche Aura verleihen sollte. Müller, in dessen Anwesenheit diese Zahl 2004 verkündet worden war, fühlt sich denn auch falsch zitiert. "Aufgrund der damaligen Kenntnis konnten wir die Zahl der 25.000 als hieb- und stichfeste Größe sicher nachweisen. Aus diesem Grund hatte ich die Opferzahl 25.000 plus x genannt." Eben gerade die Bestimmung dieser Variable x sei schließlich der Zweck der Kommission gewesen.

Allerdings konnte die Kommission in den anderthalb Jahren ihrer Arbeit das entstandene unglückliche Bild nicht richtig geraderücken. "Wir standen auch bei einigen Stadtverordneten im Verdacht, der Stadt Dresden ihren Sonderstatus als Trauma des Zweiten Weltkriegs abspenstig machen zu wollen." Dabei versichert Müller, wie engagiert man sich allen sachlichen Anregungen und Kritiken gestellt habe. "Viele Zeitzeugenberichte wurden dokumentiert, auch der immer wieder aufgeworfenen Frage der Tiefflieger sollte mittels Kampfmittelräumdienst nachgegangen werden." Doch nun fehlen die nötigen 7.500 Euro, um in den Elbauen und an anderen Stellen die Erde nach Bordwaffenmunition zu durchspüren.

Ebenso muß die Untersuchung der für die Opferzahl wichtigen Frage nach der Präsenz der Flüchtlinge aus den deutschen Ostprovinzen in der Elbmetropole einer Aufarbeitung harren. Mit Hilfe des Suchdienstes des Roten Kreuzes und der Vertriebenenverbände sollte der Militärhistoriker Rüdiger Overmans ein Gutachten erstellen. Dafür fehlen nun die Mittel. "Wir müssen alle größeren Projekte jetzt einstellen", ist Müller deprimiert. Dazu zählen selbst Anstrengungen von Stadtarchäologen, die zum Beispiel an mehreren Orten den Untergrund nach Rückwirkungen des Feuersturms in der Innenstadt untersuchen sollten.

Nicht nur die Mittel aus dem städtischen Etat fehlten nun. "Durch den uns entzogenen politischen Auftrag sind auch Gelder Dritter gefährdet. Beispielsweise hängen 30.000 Euro, die die Thyssen-Stiftung zugesagt hat, praktisch in der Luft." Gegenwärtig könne allenfalls auf "Sparflamme" geforscht werden. So werde dank der Fürsprache seines Leiters Thomas Kübler das Dresdner Stadtarchiv an der Opferzahlbestimmung weiterarbeiten - mit deren begrenzten Mitteln allerdings eher "ergebnisoffen".

Eine Umkehr des Entschlusses hält Müller für unwahrscheinlich. Es sei "tragisch", daß man in der seit Verkauf ihrer kommunalen Immobilien schuldenfreien Stadt der Erforschung seiner größten Katastrophe so wenig Interesse widme. Die politisch motivierte Blockade müsse man daher von einer übergeordneten Instanz korrigieren lassen. Hoffnungen knüpft Müller an den Landtags- und Ministerpräsidenten Georg Milbradt (CDU). "Ich habe in mehreren Schreiben, unter anderem an den Landtagspräsidenten Erich Iltgen, um Hilfe ersucht", sagte Müller der JF. Noch vor der Parlamentspause solle diese Angelegenheit dort bestenfalls behandelt werden. Denn die Zeit drängt. "Sollte in diesem Jahr politisch nicht reagiert werden, ist die Kommission endgültig am Ende", ist er sich sicher. Damit würde dann der Vorhang fallen, und alle Fragen blieben offen.


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