© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 29/06 14. Juli 2006

Künstliche Elite
Bundeswehr: Die neue Ausbildungsordnung für Heeresoffiziere
Clemens Range

Bundeswehr und Gesellschaft driften weiter auseinander. Während die Wirtschaft verstärkt ihren Führungsnachwuchs in Berufsakademien heranbildet und dabei besonderen Wert auf den regelmäßigen Wechsel zwischen Theorie und praktischer Erfahrung legt, beschreitet das deutsche Heer seit dem 1. Juli den genau umgekehrten Weg (JF 28/06). Die in 50 Jahren entwickelte und als optimal geltende Ausbildungspraxis, wonach der Offiziernachwuchs permanent zwischen Lehrgängen und praktischer Führungsverantwortung in der Truppe wechselte, wurde durch die von Generalinspekteur Wolfgang Schneiderhan verfügte Reform der Heeresoffizierausbildung abgeschafft. Damit wurde eine in Kriegs- wie Friedenszeiten bewährte, von vielen Staaten bewunderte deutsche Militärtradition zerschlagen.

Aus den leidvollen Erfahrungen des Ersten Weltkrieges, in dem eine Kluft zwischen den Soldaten der Fronttruppe und einem Teil des Offizierkorps sichtbar geworden war, leitete die Reichswehr neue Wege der Offizierausbildung ab. Jeder Offizieranwärter lebte während der vier Jahre bis zu seiner Beförderung zum Leutnant für längere Zeit mit den einfachen Soldaten zusammen und lernte so deren Denken und Fühlen kennen.

Dieses Ausbildungsprinzip wurde auch von der nachfolgenden Wehrmacht und der Bundeswehr in grundsätzlichen Fragen beibehalten. So wurden die jungen Offizieranwärter der Bundeswehr im Laufe der Jahrzehnte zunächst stets mit Wehrpflichtigen in einer Stammeinheit zusammengebracht. Gemeinsam erlebten sie die Grundausbildung, ehe sie nach einigen Lehrgängen erste Führungsverantwortung übernahmen. So wuchsen sie unter den Augen der Wehrpflichtigen wie Unteroffiziere in ihre Rolle als Ausbilder, Führer und Erzieher ihrer Truppe hinein.

Bislang wählten die Offizieranwärter bei ihrem Eintritt in die Bundeswehr ihre Truppengattung aus und entschieden sich damit frühzeitig, ob sie beispielsweise bei den Panzergrenadieren, der Artillerie oder der Instandsetzungstruppe ihre Karriere machen wollten. Seit 1973 ist in die Offizierausbildung ein obligatorisches dreijähriges Studium integriert. Hintergrund war, daß die Truppe seit Jahren an der fehlenden "Führerdichte" litt und die oberste Bundeswehrführung durch ein staatlich finanziertes Studium mit einem sich anschließenden sicheren "Arbeitsplatz" den Beruf des Offiziers attraktiver machen wollte.

Die Rechnung des damaligen Verteidigungsministers Helmut Schmidt (SPD) ging auf, und so ist heute mehr denn je das Studium bei der Bundeswehr für viele junge Menschen vor allem aus den strukturarmen Ländern ostwärts der Elbe äußerst erstrebenswert.

Erst nach vier Dienstjahren in die Truppe

Die revolutionäre und grundlegende Änderung der Ausbildung beschreitet jetzt völlig neue Wege: Die Offizieranwärter werden in Munster, Hammelburg und Idar-Oberstein in drei Offizieranwärterbataillonen zusammengefaßt und erleben fortan kaum etwas anderes als den Hörsaal-Alltag. Dem sechsmonatigen Offizieranwärterlehrgang folgt der erste Teil des Offizierlehrgangs (drei Monate), dem sich eine zehnwöchige Sprachausbildung anschließt. Erst nach einem Jahr Dienstzeit lernt der junge Offizier-aspirant erstmals während eines dreimonatigen Praktikums den Truppenalltag kennen, um sodann für fast ein Jahr (45 Wochen) wieder im Hörsaal - diesmal an einer Bundeswehr-Universität - zu landen. Es schließt sich der zweite, dreimonatige Teil des Offizierlehrgangs an, ehe eine bis zu neun Monaten dauernde Fachausbildung an einer Truppenschule absolviert wird.

Die Entscheidung, welcher Truppengattung der Heeresoffizier angehören wird, fällt erst im zweiten oder dritten Studienjahr. Fazit: Nach mehr als vier Dienstjahren kommt der Offizieranwärter - mittlerweile Leutnant - erstmals als Ausbilder und Zugführer mit dem "wirklichen Soldatenleben" in Berührung. Dann kommen sie mit jenen einfachen Soldaten zusammen, die sie später führen sollen. Erfahrene Truppenkommandeure sprechen von einer "künstlichen Elite ohne Alltagsbezug".


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