© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 30/06 21. Juli 2006

Die Zäsuren von St. Petersburg
G8-Gipfel: Es existiert eine Kooperations- und Interessengemeinschaft, aber keine "Wertegemeinschaft" mit Rußland
Wolfgang Seiffert

Eines war vorauszusehen: Der G8-Gipfel letzte Woche in St. Petersburg unter Vorsitz Wladimir Putins würde eine besondere Bedeutung haben, weil er die Staats- und Regierungs-chefs der führenden Industriestaaten und Rußlands zu Grundsatzdiskussionen und zur Verabschiedung wichtiger Dokumente zu grundlegenden Problemen der Weltwirtschaft und -politik zusammenführte. Dabei war allerdings keineswegs sicher, ob es auch zu gemeinsamen Standpunkten in allen wesentlichen Fragen kommen würde.

So schien es, daß die auf die Tagesordnung drängende Nahostkrise eher zur Fixierung gegensätzlicher Positionen, denn zu einer gemeinsamen Erklärung aller Teilnehmer führen würde. Doch nach zähem Ringen brachte man eine "starke gemeinsame Erklärung" (so Kanzlerin Angela Merkel) zustande, in der beide Seiten zum Gewaltverzicht aufgefordert wurden und eine UN-Friedensmission verlangt wird.

Der Gipfel im Schloß Peterhof hat in mehrfacher Hinsicht Zäsuren gesetzt. Die erste besteht darin, daß Rußland als Großmacht auf die Weltbühne zurückgekehrt ist, ohne die kein grundlegendes Problem der Weltpolitik mehr zu lösen ist. Das stand faktisch zwar seit längerem fest, aber der Petersburger Gipfel machte dies - gewollt oder nicht - zur gemeinsamen Überzeugung aller Teilnehmer. Mag die Aufnahme Rußlands in die Welthandelsorganisation WTO wegen der Washingtoner Forderung nach Öffnung des russischen Marktes für US-Agrarprodukte auch bis 2007 hinausgeschoben sein, aufzuhalten ist dieser Schritt nicht mehr. Das gleiche gilt für die Restriktionen bei der Teilnahme Rußlands an den Treffen der G8-Finanzminister. Die am 1. Juli erfolgte Einführung der Rubel-Konvertierbarkeit wird die anderen sieben Staaten zur Aufgabe dieser Restriktionen zwingen (JF 27/06).

Rußland als Eckpfeiler der globalen Energiesicherheit

Auf dem Energiesektor stand die Akzeptierung Rußlands als Eckpfeiler der globalen Energiesicherheit für alle bereits vor dem Gipfel fest. Die vorbereiteten Dokumente auf diesem Gebiet waren so ausdiskutiert, daß sie fast problemlos über die Bühne gingen. Eine Zäsur anderer Art setzte der Gipfel insofern, als Rußland mit den anderen G8-Staaten zwar eine Kooperations- und Interessengemeinschaft bildet, es aber keine "Wertegemeinschaft" mit den anderen G8-Staaten geben wird.

Zwar bekennt sich Rußland in seiner Verfassung von 1993 und anderen völkerrechtlichen Dokumenten (etwa durch seine Mitgliedschaft im Europarat) zu den allgemeinen Menschenrechten. Doch einen Tag vor Beginn des G8-Gipfels hat Vizepremier und Verteigungsminister Sergej Iwanow in einem Grundsatzartikel in der Istwestija die "Triade nationaler Werte" Rußlands benannt: Souveräne Demokatie (ohne Einmischung von außen), eine starke Ökonomie und die militärische Macht. Der als einer der Kandidaten für die Nachfolge Putins gehandelte Iwanow ließ mit dem Hinweis auf die Armee erneut keinen Zweifel aufkommen, daß man die Entstehung "orangefarbiger" oder andersbenannter Revolutionen in Rußland nicht dulden werde.

Vor dem Gipfel in St. Petersburg widmeten sich auch die deutschen Medien verstärkt dem Phänomen, daß Rußland wieder ein ökonomisch starker und stabiler Staat geworden ist. Der Spiegel beispielsweise titelte letzte Woche mit "Rußlands Energie - Rückkehr zur Weltmacht", Die Welt warnte, die "Herausforderung, die von Rußland ausgeht, ist keine ideologisch-politische, sondern eine ökonomische", die Zeitschrift Internationale Politik schrieb über "Rußlands Renaissance" und die Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik veranstaltete in Berlin eine Diskussion zum gleichen Thema.

Den meisten Autoren und Rednern fällt es offenbar schwer anzuerkennen, daß Rußland wieder eine politische Macht von Weltbedeutung ist. Nicht nur wird scholastisch darüber diskutiert, nach welchen Kriterien zu bestimmen ist, ob ein Land eine Weltmacht ist. Mit allerlei Einwänden wird darauf verwiesen, daß Rußland in mancher Hinsicht doch noch keine Weltmacht sei. Vor allem wird betont, daß die wiedergewonnene ökonomische Stärke im Innern mit der Etablierung eines "autoritären Systems" verbunden sei. Solche Autoren sollten sich aber fragen, worauf die erreichten Positionen Rußlands zurückzuführen sind. Dann müßten sie einräumen, daß die von Putin verfolgte Politik - ob man ihr nun zustimmt oder nicht - erfolgreich war und die Zustimmung der Mehrheit der Bevölkerung Rußlands findet. Dann käme man allerdings zu einer dritten Zäsur: nämlich darauf, daß die Etablierung des Systems Putins abgeschlossen ist.

Auf einem eigenständigen politischen Weg

Einige schwache Anzeichen deuten immerhin darauf hin, daß manche Gipfelteilnehmer anfangen, diese Situation zu verstehen. So etwa, wenn US-Präsident George W. Bush vor Vertretern von Nichtregierungsorganisationen erklärt, Rußland müsse wohl seinen eigenen demokratischen Weg gehen. Oder wenn Kanzlerin Merkel erneut davon sprach, man könne die Entwicklung in Rußland nicht an westlichen Demokratievorstellungen messen. Fest steht jedenfalls, daß wir Rußland als eigenständige politische Größe mit eigener Sprache, Geschichte, Kultur und Mentalität begreifen müssen - ein Land, das seinen Weg selbst bestimmt.

 

Prof. Dr. Wolfgang Seiffert war Direktor des Instituts für osteuropäisches Recht in Kiel und lehrte am Zentrum für deutsches Recht der Russischen Akademie der Wissenschaften in Moskau. Er verfaßte das Buch "Wladimir W. Putin - Wiedergeburt einer Weltmacht?"


Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen