© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 31-32/06 28. Juli / 04. August 2006

Das Proletariat ist konservativ
Wo Leidenschaft und Vernunft sich die Treue halten: Zum 150. Geburtstag George Bernard Shaws
Silke Lührmann

Seiner Nachwelt wollte George Bernard Shaw ein neues, rein phonetisches Alphabet hinterlassen. Wäre das Vorhaben geglückt, hätte es dem einen oder anderen Handwerker die Buchführung erleichtert, dafür aber Shaws eigener Zunft, den Kopfarbeitern, die Werkzeuge stumpfer gemacht. Daß er dieses Projekt bei allem Ärger über die komplizierte englische Orthographie nicht zu Lebzeiten, sondern durch eine Verfügung in seinem Testament anging, war womöglich kein Zufall: Wortwitz und feinsinnige Ironie, wie sie Shaw selber meisterhaft beherrschte, haben bei derlei drastischen Rationalisierungsmaßnahmen wenig zu lachen.

Bekanntlich ist aber jede Reform nur so wirksam, wie Geldmittel in ihre Umsetzung gepumpt werden. Als Shaw am 2. November 1950 94jährig starb, hatte er nicht viel zu vermachen. Später verhinderten seine Erben, daß mehr als ein Bruchteil der Tantiemen für das auf Shaws "Pygmalion" basierende Erfolgsmusical "My Fair Lady" in wohltätige Zwecke wie diesen floß. Immerhin schuf Ronald Kingsley Read 1958 als Sieger eines Wettbewerbs zu Shaws Ehren eine Lautschrift aus vierzig Strichen, Schnörkeln und Kringeln sowie acht Ligaturen.

Shaws eigentliches Vermächtnis ist ein solideres: "Ich wünschte ein Shakespeare zu sein und wurde ein Shaw", sagte er selber. Bis heute zählen seine Stücke zu den meistgespielten der englischen Sprache, sind viele seiner Aphorismen geflügelte Worte, liest man mit Gewinn seine Essays zu aktuellen politischen Fragen, in denen Leidenschaft und Vernunft einander unverbrüchliche Treue schwören. Einige der Briefwechsel, die er mit unzähligen Bekannten und Freunden wie G. K. Chesterton, H. G. Wells, der Schauspielerin Ellen Terry oder Oscar Wildes Liebhaber Lord Alfred Douglas pflegte, brachten Kollegen auf die Bühne.

Mittel- und Oberklassen sind Träger der Utopie

"Bernard Shaw ist ein wunderbar kluger geistreicher Kerl mit einem Talent, kein Geld zu verdienen. Ich kenne keinen anderen Mann, der seine Feder in solch handwerklicher Weise benutzt oder sich ein derart gründliches Wissen zu jedem Thema aneignet, zu dem er seine Meinung äußert", schwärmte Beatrice Webb, 1884 Mitbegründerin der Fabian Society, fügte aber hinzu: "Was seinen Charakter angeht, so verstehe ich ihn nicht. ... Er ist ein hervorragender Freund - wenigstens Männern gegenüber -, aber darüber hinaus weiß ich nichts. Ich neige zu der Ansicht, daß er eine 'dünne' Persönlichkeit hat - agil, elegant und sogar viril, aber es fehlt an Gewicht. Von vielen Frauen angebetet, ist er ein geborener Casanova. Vegetarier, anspruchsvoll, aber unkonventionell in der Wahl seiner Kleidung, 1,80 groß mit einer geschmeidigen, breitbrüstigen Figur und lachenden blauen Augen."

Den Lebenslügen, die Pankraz in dieser Zeitung als wichtiges Thema wie auch Stilmittel des Dramatikers Shaw ausmachte (JF 23/06), saß der überzeugte Sozialist freilich bisweilen selber auf. So gab er sich dazu her, Apologien auf Stalins Politik zu verfassen und die systematisch herbeigeführte Hungersnot in der Ukraine zu verharmlosen.

Bernard Shaw, der den vom Vater geerbten ersten Vornamen haßte, wurde am 28. Juli 1856 in Dublin als Sohn eines vom Alkoholismus geplagten Getreidehändlers und einer Sängerin geboren. Mit zwanzig folgte er seiner mit dem Gesangslehrer durchgebrannten Mutter und älteren Schwester nach London, wo sich der angehende Literat bessere Berufsaussichten versprach. Für die fünf Romane, die er in den nächsten sieben Jahren schrieb, fand Shaw lange keinen Verleger, dafür machte er sich mit Musikkritiken für die Zeitung Star einen Namen ("Corno di Bassetto") und engagierte sich als brillanter Redner sowie Verfasser von Pamphleten bei den Fabians.

Die Gesellschaft, aus der später die Labour Party hervorging, war dem Bemühen verpflichtet, den Wandel vom Kapitalismus zum Sozialismus durch demokratische Reform statt Revolution herbeizuführen, "im Einklang mit den höchsten moralischen Möglichkeiten" und "möglichst schmerzlos und effektiv". Shaw begriff früh, daß nicht die Arbeiterklasse, sondern die Mittel- und Oberklassen Träger der Utopie sind: "Das Proletariat ist das konservative Element." Ab 1897 war er zudem Ratsherr im Londoner Bezirk St. Pancras.

Shaws Theaterlaufbahn begann 1895 mit Kritiken für die Saturday Review. 1898, im Jahr seiner Heirat mit der irischen Erbin Charlotte Payne-Towns-hend, bescherte "Candida" ihm einen ersten Bühnenerfolg. Es folgte eine Reihe von Komödien, darunter seine bekanntesten Werke "Major Barbara" (1905), "Androkolus und der Löwe" (1912) und "Pygmalion" (1913). Viele Stücke versah er mit ausführlichen Einleitungen, um seine politischen Anliegen zu erläutern: Frauenemanzipation, Klassenkampf, Bekämpfung der Armut durch Bodenreform und einheitliche Löhne. "Was hat es für einen Sinn, Theaterstücke zu schreiben, was hat es für einen Sinn, irgend etwas zu schreiben, wenn kein Wille da ist, der schließlich das Chaos selber zu einer Götterrasse formt", schrieb er 1909 an Henry James.

Der öffentliche Intellektuelle avant la lettre fiel bei seiner Öffentlichkeit vorübergehend in Ungnade, als er sich 1914 der allgemeinen Kriegsbegeisterung verweigerte. Nach dem Ersten Weltkrieg knüpfte er mit ernsteren Dramen wie "Haus Herzenstod" (1919) und "Die Heilige Johanna" (1923) an seine einstige Popularität an, gewann 1925 den Literaturnobelpreis und 1938 einen Oscar für das Drehbuch zur Filmversion von "Pygmalion".

Ob es ihn, der "für nichts und niemand voll des Lobes" war, so Charles Trevelyan in einem Brief, "aber die Vollendung wirklich guter Natur ist", gefreut hätte, daß die SMS-Generation mittlerweile seinen letzten Willen verwirklicht hat? C u 4 t ("See you for tea") - eine effizientere Lautschrift hätte sich kein noch so eifriger Reformator ausdenken können. 

Foto: George Bernard Shaw 1926 an seinem Sekretär: Der irische Dichter wollte der Nachwelt ein phonetisches Alphabet hinterlassen


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