© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 31-32/06 28. Juli / 04. August 2006

Sie teilt das Imageproblem ihres Jahrhunderts
Ein Gesprächsband mit der österreichischen Schriftstellerin Gertrud Fussenegger eröffnet Denken und Wirken der "klassischen Erzählerin"
Martin Lichtmesz

Gertrud Fussenegger ist wahrscheinlich die bedeutendste lebende Erzählerin Österreichs. Nicht wenige meinen, daß der Nobelpreis für Literatur weit eher ihr zustände als der ungleich bekannteren Elfriede Jelinek, deren Werk sich zum überwiegenden Teil in ressentimentgeladenen, unlesbaren Dekonstruktionen erschöpft. Demgegenüber pflegt Fussenegger die altmodisch gewordenen Tugenden des klassischen Erzählens.

Die Welt geht nicht auf in ihren Romanen, in denen ganze Epochen zum Leben erwachen. Freilich entstammt die 1912 im böhmischen Pilsen geborene Fussenegger einer gänzlich anderen Generation als ihre berühmtere Kollegin. Das Stigma einer NSDAP-Mitgliedschaft hat zweifelsohne ihrem Nachkriegsruhm Grenzen gesetzt - ein Los, das sie mit Agnes Miegel und Ina Seidel teilt. Dennoch wurde Fussenegger in ihrer Heimat bei weitem nicht so heftig angefeindet wie die ehemalige KPÖ-Parteigenossin Jelinek. Die immer noch aktive Autorin - 2005 erschien der Roman "Jirschi oder die Flucht ins Pianino"- kann auf ein vielschichtiges Werk zurückblicken, darunter Belletristik, Lyrik, Essays und eine beträchtliche Anzahl Kinderbücher. Die böhmische Saga "Das Haus der dunklen Krüge" (1951), der Doppelroman um Léon Bloy und Marie Curie "Zeit des Raben, Zeit der Taube" (1960) und die Kriminalgeschichte "Die Pulvermühle" (1968) zählen zum Besten, was die österreichische Literatur nach 1945 hervorgebracht hat. Ihren Roman "Das verschüttete Antlitz" (1957) nannte Emil Franzel "die vielleicht einzige wirklich dichterische Durchdringung der sudetendeutschen Tragödie" (inzwischen hat die aus Südmähren stammende Ilse Tielsch diese Lücke eindrucksvoll geschlossen).

Nun ist ein von dem Germanisten Rainer Hackel angeregtes Gespräch mit Gertrud Fussenegger erschienen, das Einblick in Leben und Werk der hochbetagten Dichterin gewährt. Das im August 2003 geführte Interview ist zugleich eine Begegnung mit einer raren Zeitzeugin. Die Tochter einer sudetendeutschen Mutter und eines vorarlbergstämmigen Vaters wurde noch vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges geboren, wenige Wochen nach Untergang der "Titanic". Die junge Fussenegger erlebt den Zusammenbruch der Donaumonarchie in Gewalt und Chaos und die zunehmende Feindseligkeit der Tschechen gegenüber der deutschstämmigen Bevölkerung. Die Erfahrungen der Zwischenkriegszeit und ihre angeborene "ideologische Süchtigkeit", die sie auch zum Verehrer Spenglers werden ließ, führten schließlich zum Nationalsozialismus und zur Bejahung des "Anschlusses" im März 1938. Fusseneggers Bemerkungen über die Alltagsrealität der Menschen im Dritten Reich sind besonders lesenswert: "Es wird auf ganzer Linie so falsch, so schief gezeichnet. Niemand sagt, wie es wirklich war: Jeder Nazi muß gleich ein schwarzer Verbrecher gewesen sein, und jede armselige Gudrun aus der Frauenschaft eine kalte Bestie. So war es weithin nicht, das waren vielfach ganz honorige Leute, die nichts davon ahnten, was man mit ihnen anstellte." Die Folgen des "massenpsychotischen Schubs" sieht sie pessimistisch: "Wir haben das Unglück der Welt damals herbeigejubelt. (...) Der schwarze Felsblock Holocaust liegt auf unserer Lebensstraße und läßt sich nicht wegrollen."

Fusseneggers eigene Parteinahme war nie gänzlich unkritisch: Bereits 1936 erschien die Novelle "Mohrenlegende", eine Parabel auf "die engherzige Xenophobie meiner Umgebung". Auch der sudetendeutsche Aspekt kommt in dem Gespräch nicht zu kurz: von den sich schon früh zeigenden ethnischen Spannungen bis zu den Exzessen gegen die deutschstämmige Bevölkerung in der Stunde der "totalen Niederlage Deutschlands". Überraschend für manche Fussenegger-Leser mag der starke Einfluß sein, den der so gänzlich verschiedene Ernst Jünger auf sie ausgeübt hat. So regten Jüngers Bemerkungen zu Bloy in den "Strahlungen" den Roman "Zeit des Raben, Zeit der Taube" an, den dieser seinerseits schätzte. Einiges Material findet sich auch über den gleichaltrigen Südtiroler Dichter und späteren Wahlberliner Franz Tumler, mit dem Fussenegger eine Zeitlang eng befreundet war.

Die Mutter von fünf Kindern, die gleich zweimal einen bildenden Künstler ehelichte (Elmar Dietz und Alois Dorn) hat sich ihr Leben lang als Außenseiterin empfunden: "Den Konservativen, den Katholiken war ich nicht konservativ und nicht katholisch genug; den Nazis nicht nationalsoziali-stisch genug, den Sozialisten nicht sozialistisch genug." Zur Erscheinung jenseits des Mainstreams macht sie auch ihr Festhalten an der religiös-metaphysischen Dimension: "Die Kunst ist eine Weise des Menschen, sein Wesen zu bestehen, sein Wesen, das laut Pascal, darin besteht, daß er sich immer wieder um ein Unendliches übersteigt." Fusseneggers ungetrübter Scharfsinn und eigenwillige geistige Ausstrahlung sind auf jeder Seite des Buches präsent. Kenner ebenso wie Einsteiger werden es gleichermaßen mit Spannung und Gewinn lesen.

Rainer Hackel: Gertrud Fussenegger. Ein Gespräch über ihr Leben und Werk. Böhlau Verlag, Wien 2005, gebunden, 147 Seiten, Abbildungen, 19,90 Euro

Foto: Gertrud Fussenegger, 1993: Erscheinung jenseits des Mainstreams


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