© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 33/06 11. August 2006

"Erschossen und vergessen"
Jürgen Litfi n über seinen Bruder Günter, der vor 45 Jahren als erstes Opfer an der Berliner Mauer erschossen wurde
Moritz Schwarz

Herr Litfin, Ihr Bruder Günter gilt als der erste Mauertote, er starb am 24. August 1961 im Kugelhagel beim Versuch, den Berliner Humboldthafen zu durchschwimmen.

Litfin: Günter war der erste Mensch, der an der Mauer erschossen worden ist. Schon zuvor kostete das Ungetüm aber Menschenleben: So sprang zum Beispiel Ida Siekmann am 22. August 1961 bei einem Fluchtversuch in der Bernauer Straße in den Tod. Es ist wie bei Chris Gueffroy, er ist bekannt als "das letzte Maueropfer". Tatsächlich aber war der 20jährige der letzte, der - am 5. Februar 1989 - an der Mauer erschossen wurde. Am 18. März stürzte noch Winfried Freudenberg beim Versuch, mit einem Ballon in den Westen zu fliegen, in den Tod, und ein bis heute unbekannter Mann ertrank am 16. April 1989.

Am Sonntag jährt sich der Bau der Mauer zum 45. Mal, und noch immer hat Berlin keine adäquate Mauergedenkstätte.

Litfin: Gemeinsam haben wir versucht, den skandalösen Abriß der Mauerkreuze am Checkpoint Charlie am 5. Juli 2005, der ja bundesweit durch die Presse ging, zu verhindern. Einige von uns haben sich sogar angekettet, geholfen hat es nichts. Für viele Angehörige waren die Mauerkreuze der einzige Ort, an dem sie ihres Toten gedenken konnten, weil die DDR die Leiche nie übergeben hat. Es ist eine Schande!

Ende Juni hat der Berliner Senat unter PDS-Kultursenator Thomas Flierl ein neues Gedenkkonzept für die Stadt vorgestellt.

Litfin: Ich muß Ihnen ganz ehrlich sagen: besser als das, was meine eigene Partei vorgelegt hat! Die haben doch keine Ahnung und interessieren sich auch nicht wirklich dafür. Überhaupt habe ich seit der Wende noch nie Unterstützung von meiner eignen Partei in Sachen Mauergedenken bekommen. Denken Sie nur an den Gedenkstein für meinen Bruder, der wurde von einem SPD-Senat unter Willy Brandt aufgestellt und von einem CDU-Senat unter Eberhard Diepgen abgeräumt! Es ist nicht zu fassen! Oder: Beim Umbau des letzten Mauerwachturms zur Gedenkstätte hat mich Klaus Wowereit durchaus unterstützt, den CDU-Bezirksbürgermeister von Berlin-Mitte, in dessen Bezirk der Turm immerhin steht, habe ich hier noch nicht einmal gesehen. Ebenso der Gedenkstein für meinen Bruder, einst die Gedenkstätte des Landes Berlin für die Mauertoten. Glauben Sie, der zuständige CDU-Bezirksverband Berlin-Mitte hält sie in Ehren? Zum Beispiel wenigstens an den Jahrestagen? Nicht die Bohne! Aber an der "Kranzabwurfstelle" Bernauer Straße, da sind die Herrschaften an jedem 13. August. Und warum? Weil da die Fernsehkameras sind!

Chris Gueffroy und vor allem Peter Fechter sind zum Symbol für die Maueropfer geworden, Ihr Bruder dagegen nicht. Warum?

Litfin: Bei Peter Fechter war es wohl das lange Verbluten im Todesstreifen, das den Fall so erschütternd gemacht und dafür gesorgt hat, daß er sich der Öffentlichkeit ins Gedächtnis eingeprägt hat. Im Fall vom Chris Gueffroy war es wohl der Umstand, daß der junge Mann so kurz, nur wenige Monate vor der Grenzöffnung noch ermordet worden ist. Es gab noch weitere besonders schockierende Fälle, ich denke etwa an den damals 25jährigen Falk Schröder, der 1987 nach Entdekkung beim Fluchtversuch sich selbst tötete, oder im selben Jahr an den 28jährigen Peter Urban, dessen Leiche erst nach vier oder fünf Wochen in den Grenzanlagen entdeckt wurde. Sie sind ebenso wie mein Bruder für die Öffentlichkeit in der Anonymität der 1.067 Toten an der SBZ-Grenze aufgegangen.

1961 war Ihr Bruder 24 Jahre alt und arbeitete als Schneider in West-Berlin.

Litfin: Und das wirft man ihm bis heute vor, ihm seien die West-Mark wichtiger gewesen als sein Leben. Günter wurde nach seiner Ermordung von der kommunistischen Presse in Ost-Berlin auf das übelste verleumdet. Die Masche war, diejenigen, die zu flüchten versuchten, als unwert darzustellen, als charakterlich verkommene Subjekte. Diese Haltung hatte Honecker ja noch bei der Massenflucht ab Sommer 1989 über Ungarn. Jeder, der fliehen wollte, wurde als Verbrecher behandelt. Mein Bruder wurde als geldgierig dargestellt, als Homosexueller und als eine Figur aus der Halbwelt. Nichts davon ist wahr. Günter war lediglich kein Rauhbein, er war empfindsam, und als Schneider achtete er, so gut es ging, auf sein Äußeres. Deshalb bedachten ihn derbere Typen in der Straße mit dem Spitznamen "Puppe". Das Neue Deutschland präsentierte dies später als "Beweis" für eine angebliche Zugehörigkeit zur "Schwulenszene". Sie wußten es natürlich besser, aber es paßte ihnen ins Konzept. Während später in der DDR-Presse über die Toten an der Mauer geschwiegen wurde, hieß es damals noch zynisch: Dieser Homosexuelle und Charakterlump hat es nicht anders verdient!

Ihr Bruder plante schon länger den Umzug nach West-Berlin.

Litfin: Er hatte in einer Schneiderei am Ku-damm Arbeit gefunden, der Bau der Mauer am 13. August kam ihm regelrecht "dazwischen". Vermutlich hat er seine Flucht nicht geplant, sondern lief die Grenze ab auf der Suche nach einer günstigen Gelegenheit. Dafür spricht, daß er schließlich am hellichten Tage, nachmittags um vier Uhr, versucht hat, die Sperren zu überwinden.

Eine Kurzschlußhandlung?

Litfin: Am Grenzübergang Invalidenstraße am Berliner Humboldthafen wurde er überraschend von zwei DDR-Transportpolizisten entdeckt. Er sprang wohl spontan ins Hafenbecken, um ans Westufer zu schwimmen. Die Wasseroberfläche gehörte aber zum Hoheitsgebiet der DDR, und erst am anderen Ufer begann West-Berlin.

Dennoch war die Aktion nicht chancenlos, zwischen Ihrem Bruder und den Polizisten lag die Sandkrugbrücke, die ihm Deckung gab.

Litfin: Unglücklicherweise war aber einer der Pfeiler der Brücke hohl und mit einer Leiter versehen, die Transportpolizisten gelangten so auf die Brücke und eröffneten ein Sperrfeuer auf meinen schwimmenden Bruder.

Ihr Bruder blieb dennoch wie durch ein Wunder unverletzt.

Litfin: Günter erkannte, daß er es nicht mehr schaffen würde, er ergab sich und hob die Hände. Der Postenführer befahl auch, das Feuer einzustellen. Dennoch legte einer befehlswidrig erneut an und schoß: Er richtete meinen Bruder mit einem gezielten Genickschuß regelrecht hin!

Der Name des Mörders ist der Westberliner Polizei seit November 1961 bekannt.

Litfin: Herbert P. wurde für die Ermordung meines Bruders belobigt, befördert und erhielt Sonderurlaub! Er hat später offiziell ausgesagt, er würde auch auf die eigenen Eltern schießen, wenn es der Staat ihm befehle. Ein richtiger SED-Killer war das! Nach der Wende wurde er wie die meisten der Mauermörder zu einer Bewährungsstrafe verurteilt. Grotesk! Bewährung heißt, nicht erneut auffällig zu werden. Wie sollte denn ein Mauerschütze nach dem Fall der Mauer noch einmal in dieser Art auffällig werden?

Sie sind verbittert?

Litfin: Vor der Wende beharrte die Bundesrepublik stets auf dem Alleinvertretungsanspruch für alle Deutschen. Nach der Wende aber erklärte die bundesdeutsche Justiz die DDR zum souveränen Staat. Somit haben die DDR-Grenzer also "ihr Land geschützt" und wurden folglich nur zu Bewährungsstrafen verurteilt. Eine Riesensauerei, nachträgliche Demütigung der Opfer und Tritt in den Hintern für uns Hinterbliebene. Und heute werden diese Verbrecher auch noch mit Rente belohnt!

Vom Tode Ihres Bruders haben Sie erst zwei Tage später erfahren.

Litfin: Die Familie war in sein Vorhaben nicht eingeweiht, und als wir schließlich hörten, an der Sektorengrenze sei einer erschossen worden, ahnte ich noch nicht, daß es Günter war. Man gestattete uns schließlich nicht einmal, Abschied zu nehmen, der Sarg durfte nicht mehr geöffnet werden. Ich habe den Sarg dann heimlich mit einem Brecheisen aufgebrochen. Dabei konnte ich auch den Schußkanal feststellen: ein exakter Genickschuß!

In Westberlin war der 1962 aufgestellte Gedenkstein für Ihren Bruder bis zur Eröffnung der neuen Gedenkstätte in der Bernauer Straße 1995 zentraler Gedenkort für die Toten der Mauer des Landes Berlin.

Litfin: Das ist ja nachvollziehbar, inzwischen war Berlin schließlich wiedervereinigt. Aber daß damit auch jeglicher Respekt für den Gedenkstein meines Bruder flöten ging ... Erst erschossen, dann vergessen. Ohne die Familie zu unterrichten, wurde der Stein abgeräumt. Keiner sagte uns, wohin er gekommen war. Wir haben jahrelang nach ihm gesucht. Nur weil ein Bauarbeiter die gleichgültige Beseitigung nicht in Ordnung fand und den Stein aus dem Schutt barg, tauchte er 2000 per Zufall wieder auf.

Mit Freunden, Spenden und auf eigene Kosten haben Sie 2001 nicht nur den Stein am ehemaligen Grenzübergang Invalidenstraße wieder aufgestellt, sondern 2003 auch noch einen der beiden letzten Mauerwachtürme in Heimarbeit zur "Gedenkstätte Günter Litfin" hergerichtet.

Litfin: Da der andere in privater Nutzung eines Künstlerclubs ist, ist unser Turm der letzte, den man noch besichtigen kann. Außerdem haben wir vor sechs Jahren die Umbenennung eines kleinen Weges im Außenbezirk Weißensee, der allerdings zuvor nicht einmal einen Namen hatte, sondern nur "Straße 209" hieß, in Günter-Litfin-Straße erreicht. Aber auch das nur gegen erheblichen Widerstand, organisiert von linker Seite, mit dem Argument, man ehre damit einen "Wirtschafsverbrecher gegen die DDR", weil er im Westen sein Geld verdient hatte - und das im Jahr 2000, stellen Sie sich vor! Heute betreibe ich die Wachturm-Gedenkstätte nicht nur für meinen Bruder, sondern für alle Opfer der Mauer und um der heutigen Generation die Grausamkeit des sozialistischen Systems vor Augen zu führen, wie es die Deutschen in der DDR erleben mußten.

 

Jürgen Litfin ist der Bruder von Günter Litfin, der am 24. August 1961 mit 24 Jahren als erstes Opfer an der Berliner Mauer erschossen wurde. Der 1962 vom Berliner Senat unweit des Tatortes auf der Westseite aufgestellte Gedenkstein für ihn war bis 1995 die zentrale Gedenkstätte des Landes Berlin für die Mauertoten. Der heute 66jährige Jürgen Litfin - wie sein Bruder in Berlin geboren - trat als Ostberliner 1957 in die Westberliner CDU ein. Heute betreut der ehemalige Maurer, Former, Schweißer und Kranführer die von ihm eingerichtete private "Gedenkstätte Günter Litfin" in einem der beiden letzten noch existierenden ehemaligen Wachtürme der Berliner Mauer. Der Turm, der bis 1990 als Führungsstelle eines Grenzabschnitts diente, kann nach Vereinbarung besichtigt werden. Im August erscheinen Jürgen Litfins Erinnerungen: "Tod durch fremde Hand. Das erste Maueropfer in Berlin und die Geschichte einer Familie" im Husum/Unions-Verlag.

 

Kontakt: Jürgen Litfin, Fischerinsel 2, 10179 Berlin Tel./Fax: 030 / 23 62 61 83, Mobil: 0163 / 379 72 90, Internet: www.berliner-mauer.de/litfin/litfin-01.htm 

 

Fotos: Bergung der Leiche Litfins aus dem Berliner Humboldthafen (24. 8. 1961), Günter Litfin (1961): "Empfindsam", Ehemaliger Wachturm "Gedenkstätte Günter Litfin" in der Kieler Straße 2

 

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