© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 33/06 11. August 2006

Es spricht der Ehrendoktor
EU-Mitgliedschaft: Was der Türkei recht ist, kann Israel nur billig sein
Doris Neujahr

Vor dem Hintergrund der sich zuspitzenden Lage in Nahost und des merkwürdigen Verlaufs, den die politischen Diskussion darüber nimmt, muß ein Interview, das Außenminister a.D. Dr. h. c. Joschka Fischer kürzlich der Wochenzeitung Die Zeit (30/2006) zum Krieg gewährte, wohl als Vorbote künftiger Entwicklungen gewertet werden. Dr. h. c. Joschka Fischer? Jawohl, Fischer ist "Ehrendoktor von Haifa", was er gleich im ersten Satz herausstreicht. Warum auch nicht? Sein Medienruhm gründete sich vor allem auf Waffenstillstandsvereinbarungen, die er zwischen Israelis und Palästinensern vermittelte. Sie hielten zwar nur von Zwölf bis Mittag, ergaben aber schöne Pressefotos.

Nachdem das Interview konventionell dahingeplätschert war, eröffnet die allerletzte Antwort den Blick in die mögliche Zukunft. Fischer appelliert: "Uns Europäern kann ich immer nur wieder sagen: Begreift endlich die Bedeutung der Türkei - und zwar in einem doppelten Sinne. Sie ist zum einen wichtig als Partner für eine Sicherheitspolitik im Mittelmeerraum. Und die Modernisierung der Türkei strahlt weit hinein in die islamische Welt."

CDU und CSU sollten erkennen, so Fischer, "wie wichtig die Türkei angesichts der vielen Krisen im Nahen Osten ist. Es muß alles vermieden werden, daß bei den EU-Beitrittsverhandlungen der Türkei im Herbst wegen der Zypernfrage zwei Züge ohne Not aufeinander knallen." Er könne zwar "manche Skepsis bezüglich einer Mitgliedschaft der Türkei nachvollziehen. Aber sie ist nachrangig gegenüber der enorm wichtigen Bedeutung der Türkei für Frieden und Veränderung im Nahen und Mittleren Osten." Ganz zum Schluß betont er, "daß wir Deutschen gerade in Sachen Türkei eine hohe Verantwortung tragen". (Gemeint ist wohl: "Gerade wir Deutschen"!)

Versuchen wir, Fischers Aussagen zu sortieren: Man wird ihm darin zustimmen, daß Europa ein Interesse an einer stabilen, möglichst prowestlichen Türkei hat, und zwar, was die mögliche Vorbildwirkung auf die islamische Welt betrifft (eine europäisierte Türkei könnte freilich auch einen Abstoßungseffekt auf islamische Länder haben) als auch die Sicherheitspolitik für Nahost. Nur bleibt Fischer erneut die Antwort schuldig, warum dazu eine EU-Vollmitgliedschaft notwendig ist, warum eine privilegierte Partnerschaft nicht ausreicht.

Denn soviel ist klar: Selbst im Fall eines vollständigen Reformerfolgs wird die Türkei wegen ihrer Größe, der demographischen Entwicklung, der Quantität und Qualität ihrer Probleme, der kulturellen, religiösen und historischen Andersartigkeit die Agenda der EU dominieren, sabotieren und sie endgültig in ein amorphes, handlungsschwaches Gebilde verwandeln. Der Traum vom starken Europa wäre ausgeträumt! In Falle des Scheiterns einer beigetretenen Türkei hat sich die Zukunft der EU ohnehin erledigt. Eine privilegierte Partnerschaft würde die Prowestler in der Türkei ermuntern und stärken und andererseits die Risiken ihres möglichen Scheiterns für Europa kalkulierbar machen.

Fischer räumt selber ein, daß die Beitritts-Skeptiker Gründe haben für ihre Haltung, er betrachtet das Risiko jedoch als "nachrangig". Wenn aber die erklärten Ziele (Reform der Türkei plus Sicherheit) mit einer privilegierten Partnerschaft erreicht werden können, warum das höhere Risiko einer Vollmitgliedschaft eingehen, und aus welcher Perspektive erscheint dann ihr Risiko als "nachrangig"? Meint er mit "Frieden und Veränderungen im Nahen und Mittleren Osten" etwas ganz anderes, als die Öffentlichkeit das heute überhaupt für möglich hält? Könnte es sein, daß die Türken nur Mittel zum Zweck sind, um eine EU-Mitgliedschaft Israels vorzubereiten? In den vergangenen Jahren ist diese Option in der Presse schon mehrfach erwähnt worden, etwa von dem Historiker und Publizisten Michael Wolffsohn, ohne daß sie ernstgenommen worden wäre. Das könnte sich als ein Fehler erweisen!

Wenn erst die Türkei, die zu 95 Prozent außerhalb Europas liegt, Vollmitglied ist, wird man einem israelischen Beitrittsgesuch unmöglich mit dem Argument der Geographie widersprechen können. Der "europäische Charakter" der Israelis ist ohnehin klarer als jener der Türken. Mit der Türkei hätte sich die EU weitestmöglich an den Nahen Osten herangeschoben, der Beitritt Israels wäre der nächste logische Schritt. Bestehende Bedenken könnten leicht mit einer moralisch eingefärbten Kampagne ("Gerade wir Deutschen!") niedergebügelt werden. Der Zeitpunkt dafür kann schon anbrechen, wenn die Verhandlungen zwischen Brüssel und Ankara in ein ernsthaftes, unumkehrbares Stadium getreten sind.

Israels Interesse an einer Mitgliedschaft darf vorausgesetzt werden. Wie denn auch nicht? Seine geostrategische, außenpolitische und psychologische Lage ist schwierig. Eine Mitgliedschaft in der EU würde eine politische, moralische, mittelbar auch militärische Stärkung bedeuten. Von den wirtschaftlichen und sozialen Vorteilen ganz zu schweigen.

Auch den USA, die Israel durch milliardenschwere Militärhilfen und andere Zahlungen unterstützen (und gleichzeitig den EU-Beitritt der Türkei aktiv betreiben), käme das überaus gelegen. Israels Anspruch auf EU-Zahlungen würde eine enorme finanzielle Entlastung für sie bedeuten, darüber hinaus wäre Europa unmittelbar in die amerikanisch-israelische Nahost-Politik eingebunden, allerdings ohne einen nennenswerten Einfluß auf sie zu haben. Auch wären die Amerikaner nicht mehr die alleinigen Buhmänner, auf die sich der Zorn der Araber wegen ihrer Unterstützung Israel konzentriert. Und da Israels Wohl und Wehe mit dem Schicksal der Palästinenser eng verflochten ist, müßte Brüssel auch die Finanzierung des Gaza-Streifens und des Westjordanlandes übernehmen.

Kurzum, Europa stünde vor der Aussicht, sich den Nahost-Konflikt mit Haut und Haaren zu eigen machen zu müssen, politisch vollends paralysiert zu werden und finanziell auszubluten. Ist das die Europa-Version Joschka Fischers, der jetzt zu Lehraufträgen in die USA abreist? Es sollte darüber debattiert werden.

Leider liegt die außenpolitische Diskussion in Deutschland völlig darnieder. In den USA muß, wer auf diesem Gebiet mitbestimmen will, "Strategische" oder "Internationale Studien" an einer Elite-Universität absolvieren. Um im Bundestag als außenpolitischer Experte zu gelten, genügt es schon, ein paar Semester Soziologie zu studieren und dann ein praktisches Jahr im Kibbuz oder bei der Aktion Sühnezeichen abzuleisten. Das reicht nicht aus, um deutsche und europäische Interessen zu erkennen und wahrzunehmen.


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