© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 34/06 18. August 2006

Die Stunde der Wahrheit
Vergangenheitsbewältigung: In der Debatte um Günter Grass' Dienst in der Waffen-SS spielt viel Heuchelei mit
Günter Zehm

Jeder wird in seine Welt hineingeboren", sagte der Schriftsteller Dieter Wellershoff achselzuckend, als er von der "Verfehlung" seines Kollegen Günter Grass hörte, welcher als Siebzehnjähriger während der letzten Phase des Zweiten Weltkriegs in der Waffen-SS kämpfte und das all die Jahre danach verschwiegen hatte, bis er es jetzt im Zuge einer PR-Kampagne für sein neues Buch mit großem Aplomb bekanntgab. Was Wellershoff meinte, war wohl dies: Jeder (fast jeder) streckt sich nach der Decke, die ihm geboten wird. Helden sind dünn gesät, außer natürlich Maulhelden.

Ist oder war Günter Grass ein Held? Oder ein Maulheld? Auf jeden Fall war er in den letzten Kriegsjahren ein Junge wie die meisten anderen auch, jugendbewegt und den Lagerfeuern zugetan, offen für die "jugendfrischen" nationalsoziali-stischen Lehren und Parolen, wie sie ihm in der Schule und im Jungvolk beigebracht wurden. Er meldete sich freiwillig zum Kriegsdienst, möglichst in einer "Elitetruppe", bei den U-Boot-Fahrern; er hatte nichts dagegen, als man ihn schließlich zur Waffen-SS einzog.

Hätte er das nach dem Krieg an die große Glocke hängen, es "bekennen" sollen? Dazu bestand kein Anlaß. Jeder mußte damals sehen, wo er blieb, es ging - im Inneren wie außerhalb der Gefangenenlager - weiter um Tod oder Leben, Verhungern oder Über-die-Runden-Kommen. Wonach man nicht gefragt wurde, darüber redete man nicht. Um noch einmal Wellershoff zu zitieren: "Wir Jungen wurden von den Siegern nicht zum Bekennen, sondern zum Lügen, zum Lügen um des Überlebens willen, erzogen."

Grass verzog sich früh nach Paris, wo er sich als bildender Künstler und Lyriker betätigte und den existentialistischen Diskursen zwischen Sartre und Camus lauschte. Was er zu hören bekam, dünkte ihm höchst realistisch: Die Welt war aus dem Lot, war Chaos, Untergang, Absurdität, ein wüster Tanz der Möglichkeiten. Es kam darauf an, seinen ganz und gar eigenen "Entwurf" zu machen. Und Grass machte seinen Entwurf.

Er schrieb "Die Blechtrommel", "Katz und Maus", "Die Vorzüge der Windhühner" - absurder Realismus. Es war ein ungeheurer Erfolg. Er kam nach Deutschland zurück wie einst Petrarca nach Rom: um den Lorbeer zu empfangen. Inzwischen waren hier die "unruhigen Jungen" im Aufwind, verwüsteten die Universitäten, demütigten und verprügelten ihre Lehrer, machten "Kulturrevolution". Sie brauchten Ideologen, die ihnen ein gutes Gewissen verschafften, ältere Semester, die schon Erfahrung mit Jugendbewegtheit und Kulturrevolution hatten, ehemalige Hitlerjugendführer wie Jürgen Habermas, gläubige BDM-Mädel wie Luise Rinser, ehemalige Jungparteigenossen wie Walter Jens, Walter Höllerer, Peter Wapnewski, Leute wie Grass.

Symbolfigur der neuen Ideologenschaft wurde übrigens nicht Grass, sondern Dr. Hans Schwerte. Der Mann war unter dem Namen Hans Schneider SS-Führer beim "Ahnenerbe" gewesen, hatte nach dem Krieg - statt zu "bekennen" - die volle Identität gewechselt, rührte nun fleißig die Trommel für eine "entschiedene Bildungsreform" und rückte schnell zum Liebling der 68er auf. Er wurde Rektor der TU Aachen und behöhnte auf vornehme Weise "Establishment", "Restauration" und den "unerträglichen Muff der Ära Adenauer", genau wie Grass das tat.

Wenn Grass heute als Wortführer, gewissermaßen als Ankermann der Vergangenheitsbewältigung hingestellt wird, der durch sein Nichtbekennen viele ehrliche Herzen "schmerzlich enttäuscht" habe, so beruht das auf einer Augentäuschung. Grass gehörte nie zu den Parolenausgebern und nie zur vordersten Linie, dazu fehlten ihm sowohl Bildung als auch Mut. Er blieb lieber in der Etappe, ließ auch nie den Draht zur Gegenseite gänzlich abbrechen, und sein politisierender Redefluß erreichte stets erst dann optimale Donnerstärke, wenn die Schlacht im Grunde schon geschlagen war. So wurde er zum Star der Medien, welche bekanntlich feige sind und bevorzugt auf jene einschlagen, die bereits am Boden liegen.

Sicher wäre die Karriere von Grass, sein Zug nach ganz oben, weniger glatt verlaufen, wenn er seinen Dienst in der Waffen-SS, als das Bekennen und Asche-aufs-Haupt-Streuen ab den siebziger Jahren zum Ritual wurde, früher bekanntgemacht hätte. Jedoch: Die Spannung zwischen wüsten öffentlichen Schuldanklagen anderer und dem Verschweigen der eigenen Verstrickung ist keineswegs eine Spezialität von Grass, im Gegenteil, so machen's alle. Die Heuchelei und das Verschweigen und die persönliche Vorteilnahme sind feste Bestandteile der sogenannten Vergangenheitsbewältigung.

Andere Großbewältiger, Rinser, Jens, Höllerer, bekannten ebenfalls nicht, mußten von ehrgeizigen nachgeborenen Archivwürmern ausdrücklich mit ihrer "Schuld" konfrontiert werden. Insofern sticht Grass sogar positiv aus der Truppe heraus, denn er hat ja nun gebeichtet, wenn auch verdammt spät und möglicherweise nicht aus reinen Motiven, sondern aus schlichtem Geschäftsinteresse.

Das Erscheinen seiner Autobiographie steht unmittelbar bevor, und das vor größter Öffentlichkeit abgelegte Bekenntnis der Waffen-SS-Zugehörigkeit und der groteske Medienwirbel, der darum erzeugt wird, sind selbstredend eine gewaltige Reklame für das Opus und garantieren höchste Auflage. Auch solche Marketing-Methoden gehören bekanntlich zur Vergangenheitsbewältigung.

Die Frage ist allerdings, ob Grass mit seiner öffentlichen Beichte wirklich nur Promotion im Sinn gehabt hat. Der Mann ist nun bald achtzig, er möchte "sein Haus bestellen", möchte mit sich und der Welt ins reine kommen und offene Rechnungen endlich begleichen. Eine dieser offenen Rechnungen ist für ihn, wie man aus seinem letzten Werk, "Im Krebsgang", ablesen kann, die ausstehende literarische Würdigung der deutschen Opfer des Zweiten Weltkriegs, insbesondere jener vielen Generationsgenossen und Kameraden aus Kindheit und Jugend, die einst voller Idealismus und jugendlicher Keckheit in die Welt getreten sind und dann darin so früh und so elend umkamen. Die Erinnerung daran treibt den alten Grass spürbar um.

Eine entschiedene Wende zurück zu seinen gloriosen Anfängen, zu Katz und Maus und Windhühnern, wäre an sich nicht unsympathisch und käme nicht zuletzt dem Grass'schen Stil zugute, der in den Jahren des ewigen linken Politgezeters doch sehr gelitten hat und schlimme Ungetüme wie "Rättin" oder "Unkenrufe" zutage förderte. Wirkliche Ehrlichkeit, die nicht verheuchelt und schnöde instrumentalisiert wird, währt nicht nur am längsten, sie ziert auch den, der sich unter ihr Zeichen stellt, ungemein. Das gilt selbstverständlich auch für ehemalige Angehörige der Waffen-SS.


Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen