© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 35/06 25. August 2006

Viel Lärm um nichts
Reportage: Die scharfe Kritik aus Polen an der Ausstellung "Erzwungene Wege" stößt bei vielen Besuchern auf Unverständnis
Anni Mursula

Es ist doch überhaupt nichts Anstößiges daran", sagt eine Frau kopfschüttelnd, als sie die Ausstellung "Erzwungene Wege" in Berlin verläßt. Zu ihrem Mann meint sie, sie könne die ganze Aufregung gar nicht verstehen. Seit die Ausstellung über Flucht und Vertreibung vor zwei Wochen eröffnet wurde, ist sie unter heftigen Beschuß vor allem aus Polen geraten. Hinter der Bilderschau, die von der Stiftung Zentrum gegen Vertreibung organisiert wird, steht der Bund der Vertriebenen mit seiner Vorsitzenden Erika Steinbach. Die CDU-Politikerin gilt momentan in den polnischen Medien als "verhaßteste Deutsche", da sie die Geschichte aus polnischer Sicht auf den Kopf gestellt habe: Nun seien die Deutschen nicht mehr Täter, sondern auch Opfer.

Eine Besucherin aus Frankfurt am Main sagt, die Ausstellung sei präzise und stelle eben die "Realität" dar. Wenn dies den Polen nicht passe, zeuge das nur von einem nicht existierenden Geschichtsbewußtsein. Außerdem konzentriere die Ausstellung sich ja nicht nur auf ein Volk, sondern zeige, wie viele verschiedene Menschen im Europa des 20. Jahrhunderts Opfer von Vertreibung geworden sind. "Ich verstehe nicht, warum aus Brüssel kein Machtwort gegen das Verhalten Polens gesprochen wird", sagt sie.

An jedem Werktag kommen laut Ausstellungsmacher Wilfried Rogasch etwa 1.000 Menschen ins Kronprinzenpalais, am Wochenende sogar 1.500. Viele wollen die Ausstellung anschauen, um sich ein eigenes Urteil darüber bilden zu können. Die Geschichte der Vertriebenen, auch der 15 Millionen Deutschen, ist schließlich ein heikles Thema in der Bundesrepublik. Und darüber will man nicht voreilig urteilen.

Es ist Zeit, die andere Seite objektiv zu untersuchen

Ein Besucher schaut sich gerade die ausgestellte Schiffsglocke der Wilhelm Gustloff an, eine Leihgabe der polnischen Küstenwache. Bei der Versenkung des Flüchtlingsschiffs durch ein sowjetisches U-Boot kamen im Januar 1945 fast 10.000 Menschen ums Leben. Mittlerweile wird die Glocke von polnischer Seite zurückgefordert. Er sei nur wegen der Diskussion zur Ausstellung gekommen, sagt der Mann. Selber sei er nicht vertrieben worden, also könne er nichts aus eigener Erfahrung erzählen. Aber über das neuerliche Verhalten der Polen könne er sich trotzdem aufregen. "Ich finde es schade, daß die Polen sich praktisch aus Europa verabschiedet haben", sagt er. Er selbst sei erst nach dem Krieg geboren. Trotzdem wisse er sehr gut, welche Leiden die Deutschen in der Welt verursacht haben. "Aber aus der Zeit sind wir jetzt raus", sagt er. Nun sei die Zeit gekommen, auch die andere Seite objektiv zu untersuchen.

Dieter Dobrunz, Jahrgang 1934, ist eher zufällig in die Ausstellung gekommen. Alle paar Jahre reist er mit seiner Frau nach Berlin, um seinen Sohn zu besuchen. Dieses Jahr fiel der Besuch zusammen mit der Diskussion über die Ausstellung. Deshalb wollte er sich ein eigenes Bild davon machen. "Ich bin zwar noch nicht komplett durch, aber die Ausstellung ist ja nicht nur über deutsche Vertriebene, sondern eher zu zwei Dritteln über andere europäische Völker und ihre Schicksale", sagt Dobrunz. Aufgrund der Empörung der Polen und der Berichterstattung in den Medien könne man meinen, die Ausstellung bestehe nur aus der Vertreibung der Deutschen. "Ich finde, wenn einer sich die Ausstellung vollständig anschaut, dann muß er doch zu einem anderen Schluß kommen als die Polen", sagt er. "Was die beiden Zwillingsbrüder in Polen anstellen, ist nicht gerade gut", sagt er mit Blick auf den polnischen Staatspräsidenten Lech Kaczyński und seinen Bruder, Ministerpräsident Jarosław Kaczyński.

"Ich bin selber aus Stolp in Pommern 1945 zusammen mit meiner Mutter, meinen zwei Geschwistern, meiner Tante, deren vier Kindern und unseren Großeltern 'umgesiedelt' worden - wie man so schön sagte. Damals war ich zwölf Jahre alt", sagt Dobrunz, der heute im Rheinland wohnt. "Die Männer waren ja damals im Krieg - mein Vater in Gefangenschaft, wie wir erst später erfuhren", erzählt Dobrunz. Auch wenn er noch so jung war, sei doch einiges hängengeblieben. "Ich kann mich noch daran erinnern. Als wir flüchteten, war es März und noch sehr kalt", sagt er. Dobrunz' Familie war spät dran: Als sie nach Westen wollten, war der Kessel schon zu und die Russen bereits vor Berlin. "Wir haben trotz allem unglaubliches Glück gehabt", erzählt er. Ihr Ziel war zunächst Stettin. "Meine Eltern hatten dort Bekannte. Als wir aber dort ankamen, war die Wohnung leer. Sie waren bereits abgehauen", erinnert Dobrunz. Die Familie blieb für sechs Wochen in der leeren Wohnung, bis der Schnee getaut und die Kämpfe ruhiger geworden waren.

"1977, also über dreißig Jahre danach, sind wir zum ersten Mal wieder zu unserem alten Haus in Pommern zurückgekehrt", erzählt Dobrunz. "Insgesamt war es aber vor der Wende kaum möglich, überhaupt etwas zu machen. Schade, daß das alles so lange dauerte", sagte er. Aber das Haus stehe dort noch immer. "Und da sind wir zu Hause", sagt Dobrunz sichtlich berührt.

Ingrid Reiß, CDU-Stadtverordnete in Wiesbaden und Stellvertretende Vorsitzende des örtlichen Bundes der Vertriebenen, besucht die Ausstellung aus persönlichen Gründen. Zur Welt kam sie 1943 in Aussig im Sudetenland. Am 26. Juli 1946 wurde sie mit ihrer Familie von den Tschechen vertrieben. Erst sei die Familie nach Quassow in Mecklenburg gekommen. Nachdem der Vater Ende 1948 aus Kriegsgefangenschaft und anschließendem Zwangsarbeiterlager in Sibirien entlassen wurde, flüchtete die Familie über die Grenze in den Westen.

Ausstellung absichtlich neutral gehalten

"Diese Ausstellung über die Vertreibung ist meiner Ansicht nach sehr neutral - eigentlich zu neutral", sagt Reiß. "Ich kann einfach nicht verstehen, warum manche sich darüber so aufgeregt haben." Sie verstehe auch nicht die Schwerpunktverlegung, da die Ausstellung nur zu einem kleinen Teil an die deutschen Vertriebenen erinnert. "Der Schwerpunkt einer Ausstellung in Deutschland sollte auch bei den deutschen Opfern liegen." Hier sei aber auch viel über andere vertriebene Völker, unter anderem Polen, zu erfahren. "Würde in Polen ein Denkmal für Vertriebene errichtet, würde man wohl kaum die Deutschen berücksichtigen", sagt Reiß. Sie vermutet, daß die Ausstellung von der Stiftung Zentrum für Vertreibungen absichtlich so neutral gehalten wurde. Dadurch, daß die Leidenswege der verschiedenen vertriebenen Völker neben dem der deutschen Opfer dargestellt würden, habe sich die Ausstellung wohl eher legitimieren und durchsetzen lassen.

Am meisten ärgert sich Reiß zusammen mit ihrem Ehemann, der selbst vertriebener Schlesier ist, über einen Eintrag im Besucherbuch der Ausstellung. Dort kritisiert ein Besucher, daß in der Ausstellung das Schicksal der Juden, derer mit mehreren Informationstafeln gedacht wird, mit dem der Vertriebenen gleichgesetzt würde. Diese seien aber nicht vertrieben worden, sondern enteignet, deportiert und vernichtet. Diese Bemerkung habe Reiß sehr geärgert. Denn auch die deutschen Vertriebenen hätten damals keinen Besitz mitnehmen können und unvorstellbares Leid ertragen müssen. Ihrer Meinung nach sei die Kritik in diesem Zusammenhang einfach nicht angebracht. "In dem Eintrag steht, daß die deutschen Vertriebenen bloß neidisch gegenüber den Juden seien; eine Art 'Holocaust-Neid' besäßen".

Fotos: Besucher im Berliner Kronprinzenpalais: Täglich besuchen bis zu 1.500 Interessierte die vom Zentrum gegen Vertreibungen gestaltete Ausstellung "Erzwungene Wege", Dieter Dobrunz: Vertrieben, Kritik an der Ausstellung im Besucherbuch: "Holocaust-Neid"


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