© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 36/06 01. September 2006

Indianer, Franzosen und die drei Unterröcke
250 Jahre nach Beginn des Siebenjährigen Krieges (1756-1763) stellt sich die Kriegsschuldfrage mit historisierter Gelassenheit
Lothar Höbelt

Es steht wohl nicht zu erwarten, daß der Ausbruch des Siebenjährigen Krieges vor genau 250 Jahren heute noch große publizistische Wellen schlagen, gefeiert oder vielmehr betrauert werden wird - im deutschen Raum zumindest.

Im angelsächsischen Raum erfreut sich der "French and Indian War", der in Amerika schon eine Zeitlang schwelte und 1756 bloß noch seine diplomatische Weihen erhielt, hingegen ungebrochener Beliebtheit. Steht er doch in einer dialektischen Weise am Knotenpunkt der Weltmachtstellung der Briten wie der Geburt der USA. Denn die Vertreibung der französischen Konkurrenz vom amerikanischen Kontinent schuf auch die Voraussetzung für die Unabhängigkeit der dreizehn Kolonien, mit George Washington - der in beiden Auseinandersetzungen eine Rolle spielte - als verbindendem Mythos. Freilich: Während die Nachwelt in den Kategorien von Kontinenten denkt, die damals den Besitzer oder zumindest die "Leitkultur" wechselten, dachten die Zeitgenossen prosaischer: Für Friedrich den Großen drehte sich das Geschehen in Übersee in erster Linie um den Stockfischfang (und neuere Studien geben ihm da nicht einmal so unrecht); ja, die Engländer überlegten zum Schluß ernsthaft, ob sie statt Kanada und einem Gutteil der späteren USA nicht doch lieber ein oder zwei Zuckerinseln behalten sollten.

Für Deutschland sind die Folgen dieses Krieges zwiespältiger: Der deutsche Dualismus wurde institutionalisiert. Auch wenn die Debatten um klein- oder großdeutsche Lösungen damals noch weit in der Zukunft lagen, das Alte Reich war damit endgültig auf den Aussterbeetat gesetzt - hier zieht sich die Linie zum zweiten Gedenktag dieses Monats, dem 6. August 1806, der Auflösung des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation (JF 31-32/06). Freilich: Da ratifizierte dieser "3. Schlesische Krieg" bloß die Resultate der er-sten beiden. In territorialer Hinsicht ging das unübertreffliche Heldenepos Preußens aus wie das Hornberger Schießen: Kein Quadratkilometer wechselte den Besitzer.

Außer Spesen nichts gewesen also? Das diplomatische Genie des Fürsten Kaunitz, der gegen Preußen die berühmt-berüchtigte Koalition der "drei Unterröcke" versammelt hatte, Maria Theresias, der Zarin Elisabeth und der Marquise de Pompadour, wurde durch das militärische Genie des "Alten Fritz" paralysiert, lange genug zumindest, bis der Tod der Zarin - Zufall oder Vorsehung - die Lage grundlegend veränderte. Für einen Feldherren war kein schönerer Lorbeer denkbar. Das ruft vielleicht den Einwand hervor, daß eine Situation, die eine so spektakuläre Entfaltung der Talente des Militärs Friedrich erlaubte, eigentlich ein vernichtendes Urteil über den Außenpolitiker Friedrich spräche.

Die gängige Ansicht lautete, Friedrich habe dem drohenden Angriff durch einen Präventivkrieg zuvorkommen wollen - ja, den umstrittenen Terminus technicus nahezu erfunden. Nun, die Angriffsabsichten der Gegenseite sind wohl belegt: Auch wenn Maria Theresia ohne derlei schmückende Adjektiva auskommt, sie war zweifellos ebenfalls eine große Regentin - und nicht zuletzt eine große Revanchistin. Christian Morgensterns auf eine spätere Gelegenheit, den "Kartoffelkrieg" von 1778/79, gemünzten Verse sind da arg irreführend: "Sie machte Frieden, das ist mein Gedicht / das kann ein Welteroberer nicht".

Allerdings war die diplomatische Revolution, die 1756 über die Bühne ging, die Beilegung eines Vierteljahrtausends habsburgisch-französischer Erbfeindschaft, nicht allein Ausfluß des Revanchemotivs. Man verstand in Wien bloß das beste aus der Konjunktur zu machen. Belgien, die österreichischen Niederlande, würden in dem englisch-französischen Krieg, der sich abzeichnete, ohnehin zum Kriegsschauplatz werden, weil Frankreich ein begehrliches Auge auf die flandrischen Häfen warf. War es da nicht besser, sie freiwillig an Frankreich zu überschreiben - gegen Hilfe bei der Rückeroberung?

In Frankreich waren die Meinungen über ein solches "renversement" geteilt - bis Friedrich den Österreichern die Überzeugungsarbeit abnahm, als er im Januar 1756 mit England die sogenannte Westminster-Konvention abschloß. Denn die Achillesferse des meerbeherrschenden Albion war das Heimatland seiner Dynastie, das Kurfürstentum Hannover, das einem französischen Angriff relativ schutzlos ausgesetzt war. Warum nahm Friedrich den Briten jetzt plötzlich diese Sorge ab, verpflichtete sich zum Schutz Hannovers - und verärgerte damit seine alten Gönner, die Franzosen?

Preußen war zum Beistand Englands praktisch genötigt

Die Antwort lautete: Weil die Briten sonst Russen angeheuert hätten - da übernahm er die Rolle der niedersächsischen Wach- und Schließgesellschaft lieber selbst. Im Idealfall hielten die Briten, die mit ihren Hilfsgeldern in St. Petersburg über beträchtlichen Einfluß verfügten, die Russen ruhig, die Franzosen vergaben ihm den Seitensprung, weil sie andere Sorgen hatten - und er hatte freie Bahn gegen Österreich.

War der Präventivkrieg von 1756 vielleicht gar keiner, oder zumindest kein so unmittelbar gegen einen feindlichen Angriff gerichteter, sondern mehr ein auf die Ausschaltung der langfristigen Bedrohung durch Österreich zielender - ein viel modernerer Präventivkrieg also? Stießen 1756/57 nur zwei Offensiven aufeinander? Nur weil eine Seite eine Offensive plant, muß die andere ja noch nicht notwendigerweise auf Defensive setzen - was bei so manchen Präventivkriegsdebatten gern vergessen wird.

Diese Eventualität allein, verbunden mit allfälligen Expansionsabsichten Friedrichs, hätte die Geschichtswissenschaft in früheren Jahrhunderten noch nicht zu Ausbrüchen von Betroffenheit und Flagellantentum veranlaßt - wäre da nicht der fatale Beigeschmack gewesen, daß der große König ganz offenbar einer kolossalen Fehleinschätzung unterlegen war, denn weder gelang es den Engländern, die Zarin an die Leine zu nehmen, noch vergaben die Franzosen ihm seinen Flirt mit den Hannoveranern. Schlimmer als ein Verbrechen, ein Fehler - war er dem listigen Österreicher Kaunitz nicht geradewegs ins Messer gelaufen?

Der Nimbus des Alten Fritz ließ solche politisch inkorrekten Fragen lange Zeit nicht zu. Erst 1894 formulierte der Schlesier Max Lehmann in prophylaktischer Abwehr des politdidaktischen Imperativs mit einem Quentchen Ironie: "Deutschland ist durch Preußen geeinigt, also braucht der deutsche Beruf Preußens nicht mehr aus der Geschichte bewiesen werden." Mit anderen Worten: Man könne jetzt endlich an die Historisierung der Epoche schreiten. "Die großen Thaten der Jahre 1866 und 1870 haben die moderne vaterländische Historie losgesprochen von jeder Rücksichtnahme auf die Politik." Das war natürlich Zweckoptimismus: Den Hinweis auf ihre weltanschauliche Irrelevanz verzeiht die Orthodoxie dem Revisionisten erst recht nicht. Nur der Militärhistoriker Hans Delbrück assistierte ihm - indem er, wie oft bei derlei Debatten, denselben Befund zu einer ganz entgegengesetzten Bewertung nutzte. "Der strategische Vorteil der Initiative war im achtzehnten Jahrhundert nicht derselbe wie im neunzehnten." Nach dieser Formel ergebe ein Präventivkrieg da nicht viel Sinn. Auch daß Kaunitz dem König als Diplomat überlegen sei, hätte schon Ranke festgestellt. Doch "ein Bild von überwältigend furchtbarer Größe" stelle Friedrich dar als Staatsmann, gerade weil er "mit der gesetzlosen Verwegenheit des Genius" an der Expansion Preußens festhielt.

Der Historikerstreit führte zu keinem Ergebnis

Nach diesem steckengebliebenen Historikerstreit des vorletzten Jahrhunderts stellt sich also - aus der heutigen Perspektiv der weitestgehenden Historisierung - immer noch die Frage nach den eigentlichen Ursachen des Kriegsausbruchs. Wie "sanguinisch" war Friedrich 1756 wirklich ? Leider reichen unsere Quellen gerade aus, alle Hypothesen zu falsifizieren, keine letztgültig zu stützen. Ein Selbstherrscher muß sich selbst schließlich keine Memoranden schreiben. Aus dem Zusammenhang gerissene Bemerkungen, wie Lehmann sie zitiert, aber sind oft irreführend. Auch das 20. Jahrhundert hat da kaum neue Erkenntnisse geschöpft. Friedrichs jüngster großer Biograph Johannes Kunisch (Friedrich der Große. Der König und seine Zeit. München 2004) aber kommt zu einem salomonischen Urteil über die Motive des Königs: Er habe sich vermutlich gefreut, wieder im Mittelpunkt zu stehen. Das ist allerdings aussagekräftig - wenn auch mehr für das Medienzeitalter des 21. Jahrhunderts als für das achtzehnte, das Zeitalter der Vernunft.

 

Prof. Dr. Lothat Höbelt lehrt Neuere Geschichte an der Universität Wien.

Friedrich der Große bei der Kapitulation der sächsischen Armee bei Pirna im Oktober 1756 (Holzstich, 1881): Präventivkrieg oder nicht


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