© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 36/06 01. September 2006

Burgfrieden in Gefahr
Erster Weltkrieg: Wilhelm II. ging im Sommer 1916 gegen die "Judenzählung" in Teilen des deutschen Heeres vor
Wolfgang Effenberger

Im zweiten Kriegsjahr 1916 war die geistige Elite bestrebt, den Burgfrieden und "die Stimmung des 4. August 1914 dauernd in Kraft zu erhalten und die Schützengrabengemeinschaft auf das gesamte politische Leben auszudehnen". Doch angesichts der sich katastrophal verschlechternden Lebensmittelversorgung im Reich und der schwindenden Siegeschancen begannen Neider Gift gegen jüdische Deutsche zu verspritzen, die sich ebenso wie ihre katholischen und protestantischen Kameraden im Kampf aufopferten.

Gegen den Willen der Regierung beschloß auf Betreiben der Deutsch-Konservativen Partei am 19. Oktober 1916 die Budgetkommission des Parlaments, in den Einkaufsgesellschaften des Kriegsministeriums alle Heerespflichtigen nach ihrem Glauben zu zählen. Dahinter standen die Alldeutschen, deren Vorsitzender Ferdinand Werner dem stellvertretenden preußischen Kriegsminister Franz Gustav von Wandel bereits eine Eingabe zwecks Erhebungen nach Einsatzort jüdischer Kriegsteilnehmer (Front, Etappe, Verwaltung) gemacht hatte. Die alldeutschen Nationalisten wollten mit der Zählung "jüdische Drückebergerei" nachzuweisen, während die Nationalliberalen den Zweck verfolgten, die Juden von eben diesem Vorwurf zu befreien. Der Standpunkt des sozialdemokratischen Abgeordneten Philipp Scheidemann war so wichtig, daß er vom Vorwärts und der Allgemeinen Zeitung des Judentums abgedruckt wurde: "Der Beschluß der Budgetkommission wird nun freilich damit begründet, daß durch die Erhebung 'eine weit im Volke verbreitete Meinung' widerlegt werden soll, wonach in den Kriegsgesellschaften besonders viele 'jüdische Drückeberger' stehen. Wenn in den Kriegsgesellschaften Drückeberger stehen, so soll man sie an die Front schicken! Ob sie Juden oder Christen sind, ist total gleichgültig."

Der Kaiser ließ den Initiator an die Front versetzen

Zur gleichen Zeit befahl Kriegsminister Adolf Wild von Hohenborn für den 1. November 1916 eine Zählung der Juden bei Feldheer, Etappe, Besatzungsheer sowie eine Zählung der zurückgestellten Soldaten. Nach Bekanntgabe dieses Erlasses erhob sich ein Sturm der Entrüstung. Der Reichstagsabgeordnete Oscar Cassel protestierte im Namen jüdischer Verbände, während die SPD und die Fortschrittliche Volkspartei den Vorstoß des Kriegsministeriums als "Bruch des Burgfriedens" werteten. So wundert es nicht, daß der Kaiser den Kriegsminister noch vor dem Stichtag der Zählung ablösen und an die Front versetzen ließ. Dessen Nachfolger erklärte am 3. November, daß der Erlaß nicht böse gemeint war: Man wolle nur ungerechtfertigten Vorwürfen entgegentreten können. Am gleichen Tag nahm im Reichstag der Abgeordnete und als Frontkämpfer mit dem EK I ausgezeichnete Ludwig Haas ausdrücklich als Jude die loyale Erklärung des Kriegsministeriums an und äußerte den Wunsch, angesichts der gemeinsamen Arbeit alles zu unterlassen, "was das deutsche Volk auseinanderreißt".

Dagegen kritisierte der freisinnige Abgeordneten Georg Gothein - Vorsitzender des Vereins zur Abwehr des Antisemitismus - den Vorgang als eine grobe Ungeschicklichkeit, eine Dummheit. "Man hätte Bismarck zum Vorbild nehmen sollen, der 1874 jede konfessionelle Statistik entschieden abgelehnt hatte." Die Deutsch-Israelitische Zeitung fand durch die Zählung die Juden stigmatisiert, gerade weil man doch ohne Unterschied der Konfession mit Begeisterung in den Kampf gezogen sei. Einzelne jüdische Studentenvereine "sahen Dreiviertel ihrer Mitgliedschaft und mehr zu den Waffen stürzen und in den Blutströmen der ersten, der verheerendsten Schlachten, da floß das jüdische und das christliche Blut in gleich heißem Rot zusammen - eine erschütternde Verbrüderung."

Aus der großen Zahl der jüdischen Freiwilligen waren bis dahin etwa 1.500 jüdische Offiziere hervorgegangen, "über 8.500 Eiserne Kreuze Zweiter und über 900 Erster Klasse" verliehen worden. 1918 waren von den 100.000 jüdischen Soldaten 12.000 gefallen. Angesichts mangelnder Vergleichszahlen konnte diese Statistik - die unveröffentlicht blieb - keinen genauen Aufschluß geben.

Mit höherem Bildungsgrad in die Etappenverwendung

Aus naheliegenden Gründen stellten die Katholiken im Kriegsheer den höchsten Anteil an frontverwendungsfähigen Soldaten - abgesehen vom Offizierkorps -, wiesen sie doch die höchste Geburtenrate auf, wohnten in ländlichen Gebieten und waren vornehmlich in der Landwirtschaft beschäftigt. Schließlich hatte schon Aristoteles in seiner "Politik" (VI. 4.) bemerkt, daß Ackerbau und Viehzucht die für den Kriegsdienst tauglichsten Männer liefern. Wegen ihrer städtischen Herkunft und ihres fast gänzlichen Fehlens in landwirtschaftlichen Berufen traf dieser Zusammenhang besonders auf Juden zu. So ging in den Städten mit mehr als 100.000 Einwohnern die Tauglichkeit der dort Geborenen bereits auf 51 Prozent des "Solls" zurück, bei Berlin gar auf nur 37 Prozent desselben, während sie bei den Orten mit weniger als 20.000 Einwohnern auf 111 Prozent des "Solls" stieg. Dagegen empfahlen sich jüdische Soldaten durch ihre weit überdurchschnittliche Bildung und Sprachgewandtheit für Verwendungen außerhalb des Schützengrabens. Auch ließ die Unterscheidungen Front/Etappe/Besatzungsheer keine Rückschlüsse zu. Viele bewährte Frontsoldaten erhielten nach einem längeren Lazarettaufenthalt den Marschbefehl in die Etappe oder zum Besatzungsheer.

Angesichts der Schwierigkeit, die militärische Verwendungsfähigkeit über die Konfession zu beurteilen, beschwor der Göttinger Stadtrabbiner Behrens in einem Leitartikel über den Burgfrieden die gemeinsame Verantwortung: "Stolz auf unsere Geschichte, überzeugungstreu gegen das Erbe der Väter, kühl gegen jede törichte Herausforderung, kampfentschlossen und abwehrbereit gegen jeden Versuch, an unseren Idealen uns anzusinnen, so harren wir des kulturellen, vaterländischen Aufstiegs des neuen Deutschlands, so vereinigen wir uns mit unseren Volksgenossen in dem unbestechlichen Glauben, daß unter dem Zeichen des Burgfriedens seine weitere Entfaltung sich vollzieht, so hoffen wir, daß Parteien und Konfessionen in edlem Wetteifer ihre Arbeit künftig weihen dem Worte des Dichters: 'Nicht mitzuhassen, mitzulieben sind wir da.'"


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