© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 37/06 08. September 2006

Die Regierung muß zur Realpolitik zurückkehren
Terrorismus I: Die US-amerikanische Überreaktion auf die Anschläge vom 11. September 2001 und ihre Folgen
Elliot Neaman

Im Präsidentschaftswahlkampf 1980 erzielte der republikanische Herausforderer Ronald Reagan einen entscheidenden rhetorischen Sieg über Amtsinhaber Jimmy Carter, indem er fragte: Geht es uns besser als vor vier Jahren? Heute fragen sich viele Amerikaner: Sind wir sicherer als vor vier Jahren? Die Antwort lautet eindeutig Nein. Dafür gibt es komplexe Gründe, die sich nicht einfach auf die Fehler der Bush-Regierung reduzieren lassen.

Seit dem 11. September 2001 hat kein schwerer Terroranschlag auf die USA stattgefunden, und das Netzwerk der al-Qaida konnte stark beschädigt werden. Doch statt einer Demokratisierung des Mittleren Ostens ist die Region von Haifa bis nach Kaschmir zu einem Hexenkessel des Kriegs und der Gewalt geworden. Wo einst ein paar tausend al-Qaida-Kämpfer in heruntergekommenen Trainingslagern in der Wüste von Afghanistan auf den Heiligen Krieg warteten, ist heute ein Wespennest wütender Fanatiker entstanden, die sich spontan in disparaten Zellen organisieren und wild entschlossen sind, den Westen, vor allem Amerika zu bekriegen.

Rückblickend muß man sagen, daß der "Krieg gegen den Terror" auf der Grundlage schlechter historischer Analogien geführt wurde. Die Regierung von George W. Bush übertrieb nicht nur das Ausmaß der Bedrohung, sondern auch ihre eigene geschichtliche Bedeutung, indem sie ihre Reaktion auf den Anschlag vom 11. September zu einem Krieg zwischen Zivilisation und Barbarei stilisierte, der dem Kampf gegen den Faschismus oder den Kommunismus im 20. Jahrhundert gleichkam.

In den ersten Tagen nach dem Anschlag fühlten sich viele Beobachter an die Mischung aus Entsetzen und Überraschung erinnert, die nach Japans Angriff auf Pearl Harbor im Dezember 1941 die allgemeine Stimmung beherrschte. Rechtfertigte jedoch damals die tatsächlich bestehende militärische Bedrohung die Kriegserklärung gegen Japan und Deutschland, so erhöhte diesmal die Kriegserklärung gegen den "Terrorismus" (der eine Strategie und kein klar bestimmbarer Feind ist) einen kleinen Haufen verzweifelter Fanatiker zu einer weltweiten Gefahr, die sie zuvor allenfalls in ihrer eigenen Phantasie dargestellt hatten.

Osama bin Laden brüstete sich im letzten Jahr, die Planung und Durchführung des Angriffs habe rund 500.000 US-Dollar gekostet - die Kosten für die amerikanischen Steuerzahler werden auf über 500 Milliarden Dollar geschätzt. So ungenau diese Berechnungen sein mögen, so akkurat spiegeln sie den asymmetrischen Vorteil der Terroristen wider. Mittlerweile hat man erkannt, daß das wahre Vermächtnis des 11. September aus beidem besteht: aus den Taten der Terroristen ebenso wie den Fehlkalkulationen in der Reaktion darauf.

Eine Überreaktion auf Terrorismus ist kein neues Phänomen in der Geschichte. Als Lenins Bruder Alexander Uljanow 1887 der Verschwörung zu einem Mordanschlag auf Alexander III. bezichtigt und von der zaristischen Polizei hingerichtet wurde, verwandelte sich der sanftmütige Jurastudent Wladimir über Nacht in einen verbitterten Revolutionär, dessen Bewegung zwanzig Jahre später das Russische Reich stürzen sollte. Die Ermordung des Erzherzogs Franz Ferdinand und seiner Frau durch serbische Terroristen 1914 löste den Er-sten Weltkrieg mit seinen acht Millionen Toten aus.

Terroristische Gruppierungen gieren nach der Aufmerksamkeit der Massen und der Medien. Deshalb wählte Osama bin Laden Ziele aus, die symbolisch für die Macht der USA standen, statt die amerikanische Militärmacht direkt anzugreifen. Daß al-Qaida seit dem 11. September keine weiteren Anschläge unternommen hat, könnte nicht zuletzt den Grund haben, daß die nächste Aktion sogar noch spektakulärer und furchterregender sein muß als die letzte. Der jüngst vereitelte Plan pakistanischstämmiger britischer Terroristen, mindestens zehn Flugzeuge über dem Atlantik zum Absturz zu bringen, mag dieser Logik gefolgt sein.

Am deutlichsten läßt sich die Überreaktion auf den 11. September anhand dessen veranschaulichen, was der Journalist Ron Susskind als "Ein-Prozent-Doktrin" bezeichnet. In seinem gerade unter ebendiesem Titel veröffentlichten Buch gelang es Susskind, den Inhalt von Treffen zu rekonstruieren, die Vizepräsident Dick Cheney in den Tagen nach dem 11. September mit seinen Beratern im Keller des Weißen Hauses abhielt. Das Expertenteam suchte nach einer Formel, mit deren Hilfe sich die Schwere potentieller zukünftiger Bedrohungen bemessen ließe. Cheney argumentierte, nach dem 11. September müsse davon ausgegangen werden, daß auf sämtliche Bedrohungen der US-Sicherheit, selbst wenn sie nur ein einprozentiges Risiko darstellten, mit derselben Entschlossenheit zu reagieren sei.

Solch paranoides Denken war sicherlich für die Folterungen von Abu Ghraib und Guantánamo ebenso mitverantwortlich wie für die Aufhebung des Habeas-Corpus-Rechts bei der Festnahme ausländischer Terrorverdächtiger in den USA sowie die heimliche und vermutlich illegale Schaffung von Abhörnetzwerken zur Überwachung privaten E-Post- und Telefonverkehrs und finanzieller Transaktionen. Zudem hat dieser Geist das bürokratische Monstrum des Heimatschutzministeriums (Department of Homeland Security) geboren, das seit seiner Gründung 2002 Milliardensummen für fragwürdige Sicherheitsmaßnahmen verschwendet.

So verführerisch die Annahme ist, die Invasion des Irak 2003 ginge ebenfalls auf die Rechnung der Ein-Prozent-Doktrin, sie wäre falsch. In den USA und Europa schwirren alle möglichen Verschwörungstheorien bezüglich der Hintergründe dieses Krieges durch das gesamte politische Spektrum. Doch erst wenn in einigen Jahrzehnten die Archive geöffnet werden und zukünftige Historiker mit der gebotenen Sachlichkeit alle Unterlagen studieren können, wird man sicher wissen, was hinter den Kulissen und in den Köpfen der Verantwortlichen vorging, die diese folgenschwere Entscheidung trafen.

Fest steht indes, daß schon vor dem 11. September ein Problem bestand, daß Saddam Hussein meisterhaft die Weltöffentlichkeit zu manipulieren verstand und weiterhin eine Bedrohung bedeutet hätte, sofern er die Sanktionen und Flugverbotszonen umgehen konnte. Ginge es nach dem Willen vieler wohlmeinender, aber naiver "Friedensbewegter" im Westen, wäre Saddam ungeschoren davongekommen, während die Krise ungelöst weitergeschwelt hätte.

Andererseits sind sich militärische Fachleute nahezu einig, daß das derzeitige Fiasko im Irak vermeidbar gewesen wäre. Dazu hätte es besserer Vorbereitungen auf die Nachkriegszeit bedurft, insbesondere der Entsendung von mehr Bodentruppen, um die Grenze unmittelbar nach dem Einmarsch abzuriegeln. Des weiteren hätte man die irakische Armee nicht auflösen dürfen und schnell eine neue irakische Regierung einsetzen müssen.

Ihre Überreaktion auf den 11. September stellt die USA vor das langfristige Problem, daß ihre außenpolitischen Aktionen seitdem geschrumpft sind. Nicht nur haben sie mit dem Irak-Krieg ihre moralische Autorität kompromittiert, sondern ihre Gegner fühlen sich nun ermutigt, sich gegen eine scheinbar geschwächte und erniedrigte Weltmacht zu erheben. Es ist kein Zufall, daß mit Nordkorea und dem Iran zwei weitere Staaten der "Achse des Bösen" ihre atomaren Rüstungspläne vorantreiben, während die USA nur wütend zusehen, ohne militärisch viel unternehmen zu können.

Man kann nur hoffen, daß die nächste US-Regierung aus den Fehlern ihrer Vorgänger lernen und zu der bewährten Realpolitik des 20. Jahrhunderts zurückkehren wird, in der sich Diplomatie, Koalitionsbildung und andere Formen von "soft power" mit der nackten Faust militärischer Schlagkraft verbanden. In jedem Fall werden die Folgen des 11. September die amerikanische und die Weltpolitik noch auf Jahrzehnte hinaus prägen.

 

Prof. Dr. Elliot Neaman lehrt Neuere europäische Geschichte an der University of San Francisco. In der JF 13/06 schrieb er zum Thema Irak-Krieg: "Sorry, wir haben uns geirrt".

Foto: Feuerwehrleute in den WTC-Trümmern: Eine scheinbar geschwächte und erniedrigte Weltmacht


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