© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 37/06 08. September 2006

Pankraz,
V. Juschtschenko und der Holodomor

Eine Schreckensvokabel geht in politischen Gesprächen um: "Holodomor". Sie stammt aus der Ukraine und bezeichnet jene Zeit im vorigen Jahrhundert, als die Bolschewiken dort Millionen von Menschen systematisch zu Tode hungerten, an die sechs Millionen nach Schätzung vorsichtiger Historiker. Der "Holodomor" ist nicht dem "Holocaust" nachgebildet, sondern leitet sich von "holod" ab, dem ukrainischen Wort für "Hunger". "Holodomor" heißt "Zwang des Hungers", "Fokus des Hungers". Das Wort trifft ins Schwarze.

Kurz nach 1930 hatten zwickerbewehrte Theoretiker des Marxismus-Leninismus in Stalins Moskauer Zentralkomitee herausgefunden, daß es im Interesse des weiteren zügigen Aufbaus des Sozialismus notwendig sei, "die Kulakenklasse zu vernichten". Diese "Kulakenklasse", so hieß es, sei ein Nährboden für ständig nachwachsenden Kapitalismus, sie weigere sich, in die "Kolchosen" einzutreten, und also müsse sie vernichtet werden. Man könne auf diese Weise auch gleich "den ukrainischen Nationalismus zerschlagen", denn "die Kulaken" hätten ihre größte Mitgliedschaft in den fruchtbaren ukrainischen Schwarzerdgebieten.

Wohlgemerkt: Die "Kulaken" waren keineswegs Großgrundbesitzer (die waren sofort nach 1917 erschlagen oder vertrieben worden), es waren ganz normale, einfache Bauern mit einigen Morgen Land, die fleißig ihren Boden bestellten, Jahr für Jahr gute Ernten zum Wohle aller einfuhren und nicht verstanden, warum sie plötzlich all ihren Besitz an eine "Kolchose" abgeben sollten, in der nichts funktionierte, weil dort politische Funktionäre und andere notorische Nichtstuer das große Wort führten. Die "Kulaken" waren an sich keine Feinde, es waren nur Anhänger des gesunden Menschenverstands.

Wie vernichtet man solche Konterrevolutionäre? Nun, auf diesem Feld kannten sich die Funktionäre und Kommissare bestens aus. In den Bezirksstädten stellten sie militärische Spezialeinheiten zusammen, die in die Dörfer ausschwärmten, in die Höfe eindrangen, Vieh und Getreide einschließlich des Saatguts beschlagnahmten und wegführten. Wer von den "Kulaken" sich dagegen wehrte, wurde entweder gleich an die Wand gestellt, oder er wurde mit anderen auf Sammelstellen zusammengetrieben, in Güterzüge gepfercht und irgendwo in völlig leeren östlichen Steppen aus den Waggons gekippt: "Nun seht zu, wo ihr bleibt!

Das große Kulakenlegen war keine Kette von Einzelfällen, "bedauerlichen Übertreibungen", sondern es war - speziell in der Ukraine - planvoll und stur durchgeführte Strategie, Millionen waren davon betroffen. Die grausamste Hungersnot der Neuzeit trat nun ein. Die in den ausgeplünderten Dörfern zurückgebliebenen Frauen und Kinder mußten Gras essen. Sie formierten sich zu Hunger- und Bettelzügen, belagerten die Bahnhöfe, starben auf offener Straße wie die Fliegen.

Gerade damals fand in Charkow ein großer kommunistischer Ideologie-Kongreß statt, zu dem alle möglichen internationalen Vorsitzenden und Geistesarbeiter angereist kamen, Maurice Thorez, Dolores Ibárruri, auch unser deutscher "rasender Reporter" Egon Erwin Kisch (der von alledem freilich nichts mitbekam). Statt seiner hat später Arthur Koestler über diese Geisterfahrt berichtet. "Vor jedem Halt kamen die Schaffner angerannt und deckten die Fenster mit schwarzen Holzspanplatten ab. Wir sollten die Verhungernden neben den Gleisen nicht sehen. Kisch hing in seinem Eckplatz, eine Zigarette im Mundwinkel, und lispelte: Ach, wie gemütlich."

Holodomor - ein fast etwas modisch klingendes Wort für eine alte Wunde, die unvernarbt am Herzen wohl noch der meisten Ukrainer schwärt, ob sie nun im "katholischen" Westen oder im "orthodoxen, russischen" Osten leben. Diese Wunde, sie nährte den Haß auf Moskau, sie brachte 1941 viele Bewohner des Landes dazu, die Voraustruppen der deutschen Eroberer als Befreier zu begrüßen, sie führte zu zahlreichen spontanen Racheexzessen an "Kommissaren", jenen Herren mit dem roten Stern an der Mütze und dem Revolver in der Arschtasche, die man als mörderische Saaträuber noch in allzu schlimmer Erinnerung hatte.

Heute dient das Gedenken an den Holodomor zur Beschwörung der nationalen Einheit aller Ukrainer. Auf dem ukrainischen Weltforum vor einigen Tagen in Kiew warnte Präsident Viktor Juschtschenko dringend vor einer "föderalistischen Zerfaserung des Landes", und er tat es ausdrücklich im Namen des Holodomor. Jeder Ukrainer, ob nun aus dem Westen oder aus dem Osten, rief der Präsident, habe in seiner Familie Opfer jenes grauenhaften Ereignisses, trauere um sie, halte sie in Ehren. Aus dieser Erinnerung gelte es Kraft zu schöpfen für die gemeinsame Bewältigung der Zukunft. Das sei man dem Andenken der Opfer schuldig.

Pankraz ist beim Anhören solcher, durchaus wackeren und äußerst gut gemeinten, Reden übrigens nicht ganz wohl. Sicher, hier wird kein Haß geschürt, aber instrumentalisiert wird das Gedenken dennoch. Man macht mit ihm Politik, die Manen der Vergangenheit werden zu Zeugen, zu Blutzeugen für eine Sache aufgerufen, für die sie nicht selber einstehen können, von denen man nicht einmal weiß, ob sie überhaupt für sie einstehen würden. Die Genauigkeit des Erinnerns wird darüber leicht diffus.

Es ist das alte Dilemma jeglicher historischer Erinnerung, welches schon den jungen Nietzsche so leidenschaftlich umtrieb. Auf der einen Seite steht die unverbrüchliche Treue zu den Fakten, die es so objektiv wie möglich freizulegen gilt; das ist ein sehr hoher Wert, besonders in Zeiten der Lüge und des vorschnellen Schlüsseziehens. Auf der anderen Seite ist jedes nur um seiner selbst willen betriebene Erinnern anämisch und beinahe lächerlich, ein Steckenpferd für Archivwürmer. Es verführt zu Geschwätz und schwächt die Entscheidungskraft. Gelassenheit beim Forschen und Lernwilligkeit beim Handeln markieren hier wohl die richtige Einstellung.


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