© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 37/06 08. September 2006

Klänge vom Ende der Zeit
Von der Oper bis zum Schlager, vom Jazz bis zur Folklore: Görlitz veranstaltet ein Festival der "Vergessenen Musik"
Paul Leonhard

Mit einem Festival der "Vergessenen Musik" veranstaltet die niederschlesische Stadt Görlitz vom 15. bis 17. September internationale Musiktage. Zum Auftakt wird in diesem Jahr an Musiker und ihre Lebensgeschichten erinnert, die während der Zeit des Nationalsozialismus verboten, verfemt waren und teilweise als Juden im Konzentrationslager ermordet wurden.

Der 1944 in Auschwitz-Birkenau ermordete Komponist Viktor Ullmann beispielsweise wäre, hätte er die NS-Zeit überlebt, wahrscheinlich einer der Großen der Nachkriegszeit geworden. Erinnert wird aber auch an Fritz Löhner-Breda, der - 1938 verhaftet und zunächst nach Dachau und dann ins Konzentrationslager Buchenwald gebracht - am 4. Dezember 1942 in Auschwitz von einem kriminellen Mithäftling erschlagen wurde. Von ihm stammen die Verse so bekannter Schlager wie "Was machst du mit dem Knie, lieber Hans" oder "Ich hab mein Herz in Heidelberg verloren". Der in Wien Aufgewachsene schrieb aber auch Bühnentexte, zum Beispiel für Franz Lehárs Operette "Das Land des Lächelns". Und auch das berühmte "Buchenwaldlied" hat Löhner-Breda getextet.

Verboten waren während des Dritten Reichs das "Weiße Rössl", das "Schwarzwaldmädchen" und die "Gräfin Mariza". Zuletzt durften nicht einmal mehr Tschaikowski oder Smetana gespielt werden. "Wir wollen aber auch an die galizische Klezmer-Musik und die osteuropäische Folklore erinnern, die mitsamt den Musikern ausgerottet wurde", sagt der Berliner Musikwissenschaftler Gerhard Müller, der das Festival in diesem Jahr als letzten Akt der fehlgeschlagenen Görlitzer Bewerbung als Kulturhauptstadt Europas 2010 organisiert.

In ihren Bewerbungsunterlagen für Brüssel hatte die niederschlesische Metropole seinerzeit bewußt auf Olivier Messiaen aufmerksam gemacht. Der Franzose hatte im Görlitzer Kriegsgefangenenlager, dem sogenannten Stalag VIII, sein inzwischen berühmtes "Quartett für das Ende der Zeit" geschrieben, das 1941 hier auch aufgeführt wurde und erst in den neunziger Jahren ein zweites Mal in Görlitz erklang.

"Es wird viel Neues geben und vieles Bekanntes wird neu sein", sagt Müller. Lieder von Viktor Ullmann, Aribert Reimann, Sergej Prokofjew, Georgi Swiridow, Robert Schumann, Avner Dorman, Gustav Mahler werden erklingen. Im Görlitzer Theater gibt es ein Operettenkonzert, das zwei vergessenen Künstlern gewidmet ist: der Geigerin Alma Rosé, einer Nichte Gustav Mahlers, die in Auschwitz das legendäre Frauenorchester leitete, und eben dem Schlagertexter Fritz Löhner-Breda: Musik, die gewiß die Herzen der Menschen findet. Meist denke man ja bei "verfemter Musik" nur an Schönberg und Hindemith, sagt Müller.

Das sei falsch. Deswegen beziehe das Festival von der Oper bis zum Schlager, vom Jazz bis zum Solokonzert alles mit ein. Außerdem werden Filme wie "Der Pianist" von Roman Polansky oder - in Deutschland bisher kaum gezeigt - "Der Fall Furtwängler" von Istvan Szábo sowie der Dokumentarstreifen "Die Ritchie Boys" zu sehen sein.

Sogar eine Legende wird auftreten: Der 82jährige Jazz-Gitarrist Coco Schumann, einst Mitglied der berühmten "Ghetto Swinger" im Konzentrationslager Theresienstadt, tritt mit seinem Coco-Schumann-Quartett am 16. September im Dom Kultury, der ehemaligen Ruhmeshalle, im polnischen Teil der Stadt Görlitz auf.

Wenn das Festival ein Erfolg wird, soll es alle zwei Jahre an zu Unrecht vergessene Künstler erinnern, die Opfer der Diktaturen des 20. Jahrhunderts wurden. 

Das vollständige Programm und weitere Informationen zum Festival finden sich im Internet unter www.khs2010.de


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