© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 37/06 08. September 2006

Meldungen

Zu eilige Begegnung mit Ludwig Ross

KIEL. Bis in die Tiefen des kollektiven Gedächtnis reicht der materialistische Zeitgeist. Wie anders läßt sich erklären, daß die deutsche Antike-Rezeption des 19. Jahrhunderts in der Erinnerung auf das "Gold von Troja" zusammenschrumpft? Aber der spektakuläre Fund des "Dilettanten" Heinrich Schliemann hatte schon Zeitgenossen von "zünftigen" Leistungen der im internationalen Wettbewerb führenden deutschen Archäologie abgelenkt. Zu deren Gründervätern zählte der Holsteiner Ludwig Ross (1806-1859), der am athenischen Parthenon die ersten stratigraphischen Grabungen durchführte, dort den Niketempel wieder aufrichtete und auch mit dem neuhumanistischen Mythos von der Selbständigkeit der griechischen Kultur und ihrer Entstehung im 8. Jahrhundert v. Chr. aufräumte. Insoweit nahm Ross vorweg, was Schliemanns Entdeckungen bestätigten: eine ältere griechische Hochkultur, die sich unter orientalischem Einfluß entwickelte. Um Ross als Pionier der klassischen Archäologie der Vergessenheit zu entreißen, hat die Landesbibliothek in Kiel eine ungewöhnlich "dichte" Ausstellung veranstaltet, die mit vielen Exponaten einen tiefen Einblick in die deutsche Bildungswelt vor 150 Jahren gewährte. Bedauerlich ist nur, daß diese Schau Ende August nach nur vier Wochen wieder abgebaut wurde und man sich nun Ross nur über die profunde Biographie der Bochumer Wissenschaftshistorikerin Ina Minner nähern kann, die in Kiel den Eröffnungsvortrag hielt (Verlag Bibliopolis, Möhnesee 2006).

 

Polen: Ideologieextrakt aus erster Hand

FRANKFURT/M. Wer einmal auf knappstem Raum alle Kernelemente der Geschichtsideologie der polnischen politischen Klasse kennenlernen möchte, dem sei das Interview empfohlen, das Konrad Schuller mit dem Parlamentspräsidenten Marek Jurek kurz vor dessen Berlin-Besuch führte (FAZ, 28. August). Der Sejm-Marschall rechtfertigt darin die Annexion der deutschen Ostprovinzen und ihre von ihm "Umsiedlung" genannte ethnische Säuberung allein mit dem Willen der Sieger von 1945. "Es war nicht Polen", das die Oder-Neiße-Linie und die "Umsiedlungen" beschlossen habe. Offenbar "vergißt" Marek, daß polnischer Chauvinismus seit dem 19. Jahrhundert für eine Okkupation deutscher, russischer und litauischer Territorien agitierte. Noch 1938 nutzte Polen das Münchner Abkommen, um als europaweit verachtete "Hyäne auf dem Schlachtfeld" ein Stück Tschechei (Teschen) zu ergattern. In Potsdam gossen die "großen Drei" darum nur alte polnische Forderungen nach einer "Westverschiebung" in Vertragsform. Schließlich läßt sich die Einverleibung Ostdeutschlands kaum mit Mareks starrsinnigem Rekurs auf den Anspruch auf "sichere Grenzen" legitimieren - als könne die Oder im Atomzeitalter einen Feind am Überschreiten dieser neuen "Westgrenze" hindern.


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