© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 38/06 15. September 2006

Kolumne
Gammelndes Fleisch und die Herrschaft der Mediokraten
Klaus Motschmann

Der jüngste Skandal um den Vertrieb von "Gammelfleisch" bietet Anlaß, wieder einmal über die Bedeutung des Skandals im Prozeß der öffentlichen Meinungsbildung nachzudenken. Zunächst ist daran zu erinnern, daß der Skandal keineswegs ein Phänomen des modernen Journalismus ist. Er ist vielmehr ein "archaisches Institut des öffentlichen Lebens" (Johannes Gross) und hat seit dem Altertum in allen Epochen der Geschichte dann und wann wesentlichen Einfluß auf Gesellschaft und Politik ausgeübt. Bereits in der Bibel gibt es ausdrückliche Hinweise (meist Warnungen) zum Umgang eines Christen mit dem Skandal.

Das Grundmuster aller Skandale hat uns Cicero (106 - 43 v. Chr.) in seinen berühmten Reden gegen Verres (Orationes in Verrem) hinterlassen. Verres war ein Prototyp des korrupten Politikers. Als Statthalter in Sizilien hatte er eine Vielzahl von Verbrechen begangen (Unterschlagungen, Kunstraub, sexuelle Ausschweifungen, Bestechungen von Richtern und Senatoren und sogar einen Mord), die im einzelnen gar nicht mehr verurteilt werden konnten, zumal die zuständigen Richter aus Angst vor Repressalien zu ordnungsgemäßen Gerichtsverfahren kaum noch bereit waren. Dem wüsten Treiben Verres' und der ständigen Verletzung der staatlichen Ordnung war nur durch eine "actio popularis", durch einen inszenierten Skandal zu begegnen, um den alten Rechtszustand wiederherzustellen. Unter den damaligen Umständen war dies die letzte Möglichkeit. Insofern hatte der Skandal eine durchaus positive Bedeutung zur Wiederherstellung und Bewahrung des Werte- und Normensystems einer Gesellschaft.

Es kann aber auch das exakte Gegenteil der Fall sein; dann nämlich, wenn es in erster Linie offenkundig nicht darum geht, durch die Aufdeckung eines Skandals "das System" zu verteidigen, sondern darum, dieses System zu denunzieren und den Eindruck zu vermitteln, daß es zunehmend funktionsunfähig sei. Die Häufung von allen möglichen Skandalen in den letzten Jahren legt diesen Verdacht nahe. Auf diese Weise wird der Prozeß einer schleichenden Delegitimierung des Systems vorangetrieben und die Ausbreitung der Mediokratie begünstigt, teils bewußt, teils unbewußt. Die möglichen Konsequenzen dieser Entwicklung sollten zumindest ebenso aufmerksam beobachtet werden wie das Haltbarkeitsdatum für einige Tonnen Fleisch. Nichts gegen eine sorgfältige Kontrolle unserer Nahrungsmittel, aber auch nichts gegen eine sorgfältige Kontrolle unserer Mediokraten.

 

Prof. Dr. Klaus Motschmann lehrte Politikwissenschaften an der Hochschule der Künste Berlin.


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