© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 39/06 22. September 2006

"Wir sind erbarmungslos"
Der Philosoph Robert Spaemann über die Verirrung in die Abtreibungsgesellschaft, die Kirche und die Lebensrechtsbewegung
Moritz Schwarz

Herr Professor Spaemann, am Samstag findet auf dem Berliner Alexanderplatz wieder die Hauptdemonstration der deutschen Lebensrechtsbewegung unter dem Motto "1.000 Kreuze für das Leben" statt. Haben Sie im Kampf gegen die Abtreibung noch Hoffnung?

Spaemann: Um ehrlich zu sein, nicht viel. Am ehesten könnte es durch die Tatsache, daß erstmals die drohende demographische Katastrophe ins allgemeine Bewußtsein dringt, zu einer Neubesinnung kommen.

Das hätte mit einer ethischen Besinnung unserer Gesellschaft allerdings nicht viel zu tun.

Spaemann: Ja und es wird auch die ein für allemal ideologisch Festgelegten nicht erschüttern. Aber in der Öffentlichkeit wird man vermutlich Müttern wieder mit Respekt und Dankbarkeit begegnen. Ob das zu tiefgreifenden strukturellen Veränderungen führen wird, ist aber weiterhin die Frage.

Es ist nur wenige Jahrzehnte her, da war ein Thema wie Abtreibung tabu. Heute ist sie oft positiv konnotiert, weil angeblich Ausdruck von Freiheit und Individualität. Wie konnte es zu so einem fundamentalen Wandel kommen?

Spaemann: Tabus, also stillschweigendes Einverständnis über das, was sich von selbst versteht, sind in einer Diskursgesellschaft argumentativer Auflösung ausgesetzt, obwohl die Diskursgesellschaft inzwischen längst neue Tabus errichtet hat: Sie dürfen ja bei weitem nicht alles sagen. Im Fall der Abtreibung kam dem Angriff der Feministinnen die Bekanntmachung der hohen Zahl der illegalen Abtreibungen zugute, die bis dahin in der Regel verschwiegen wurden. Das bestehende Strafrecht schient nicht zu greifen. Es gibt außerdem seit langem die Tendenz, den Unterschied von allgemein anerkannten Normen und realer Lebenspraxis aufzuheben, der für alle Hochkulturen konstitutiv ist, ebenso wie das dazugehörige Phänomen der Heuchelei. Was speziell die Abtreibung betrifft, so kommt hinzu das Selbstverständnis der wissenschaftlich-technischen Zivilisation als organisierter Kampf gegen das Schicksal. Auch wenn es, wie im Fall der ungewollten Schwangerschaft, ein selbst verursachtes Schicksal ist. Schicksalslosigkeit als Lebensqualität. "Liebe ohne Folgen" hieß ein Buch, das in meiner Jugend in den Bahnhofskiosken auslag. Alles Irreversible, Eheversprechen, Gelübde usw. werden zu Fremdkörpern. Eine hohe Ehescheidungsziffer, also das Scheitern möglichst vieler Ehen gilt manchen Soziologen als Kriterium einer "fortgeschrittenen Gesellschaft".

Gerade hat Papst Benedikt XVI. Deutschland besucht. Die Tatsache, daß er in einem Land weilt, in dem in den letzten dreißig Jahren vermutlich acht Millionen Kinder abgetrieben worden sind, hat ihn nicht dazu veranlaßt, das Thema explizit anzusprechen. Täuscht der Eindruck, daß beide Kirchen sich nicht mehr wirklich für die Abtreibung interessieren?

Spaemann: Der Papst verfolgt - auch bei dem Familienkongreß im Juli in Valencia - die Strategie, in seinen Reden eher positiv den Wert der Ehe und Familie bzw. der Würde des Lebens zu betonen, statt über Ehescheidung, Homosexualität oder Abtreibung zu klagen. Aber die Kirchen spielten in der Tat keine sehr rühmliche Rolle bei diesem Thema. Zur Zeit der vielen heimlichem Abtreibungen haben sie nichts wirklich Effektives getan, um die Kluft zwischen Norm und Realität zu verkleinern. Sie haben sich am Verschweigen beteiligt. Schwangerschaftsberatungsstellen, organisierte Hilfe für Frauen in bedrängter Situation, das begann alles erst, als die widerwärtige Kampagne "Mein Bauch gehört mir" und die Legalisierung der Abtreibung begonnen hatte. Aber besser spät als gar nicht. Nach wie vor sind die Kirchen die einzigen Institutionen, die sich öffentlich zum Schutz menschlichen Lebens von Anfang an bekennen.

Aber ist dieses Bekenntnis denn tatsächlich eindeutig? Papst Johannes Paul II. schien die Praxis der Schwangerschaftsberatung der Kirchen in Deutschland durchaus für zweideutig zu halten.

Spaemann: Die Kirchen haben sich trotz der Eindeutigkeit ihrer Lehre in die Zweideutigkeit des Lebensschutzes durch die Politik verstricken lassen. Die deutsche Politik ist zweideutig bis zur Verlogenheit. Sie beruht auf einem Kompromiß zwischen diametral entgegengesetzten Positionen. Da sind einmal diejenigen, die Menschen vor der Geburt oder jedenfalls vor dem vierten Monat der Schwangerschaft nicht für Menschen und also nicht für schutzwürdig halten - eine vom Bundesverfassungsgericht verworfene Auffassung. Dann sind da die Grünen, die dem Embryonenschutz hohe Bedeutung beimessen, aber nur in bezug auf Embryonen außerhalb des Mutterleibs. Das Selbstbestimmungsrecht der Frau hat für sie höheren Rang. Wenn sie eine neunmonatige Schwangerschaft ablehnt, darf sie einen Menschen, der vielleicht achtzig Jahre vor sich hat, töten. Und dann sind da die, für die das Recht auf Selbstbestimmung endet, wo es sich um die Verfügung über bereits existierendes menschliches Leben handelt. Die Fristenregelung mit Beratungspflicht sollte die Lösung sein. Sie sollte gleichzeitig die Abtreibung legalisieren und die Abtreibungszahlen senken. Das Verfassungsgericht hat diese Lösung unter der Bedingung akzeptiert, daß der Bundestag nach einer angemessenen Frist die Erfüllung dieser Erwartung überprüft. Die Frist ist längst verstrichen, aber keine Partei hat bisher den Antrag auf Erfüllung dieser Auflage gestellt.

Es ist also keiner Partei ernst mit dem Lebensschutz?

Spaemann: Offensichtlich nicht, ja sogar dann nicht, wenn es nur darum geht, einen Auftrag des obersten Gerichts zu erfüllen.

Worin besteht dann die Verstrickung der Kirchen? Sie sind keine Verfassungsorgane und können einen solchen Antrag nicht stellen.

Spaemann: Die Verstrickung bestand bis zu dem Machtwort des Papstes 1999 darin, daß die kirchlichen Beratungsstellen, die im Rahmen des Gesetzes arbeiteten, am Ende der trotz Beratung abreibungswilligen Frau eine Bescheinigung ausstellen, die ihr den Zugang zur straffreien Abtreibung eröffnete. Als dann Kardinal Lehmann erklärte, er werde staatliche Stellen verklagen, wenn sie die kirchlichen Bescheinigungen nicht zu diesem Zweck anerkennen würden, war das Ende der Fahnenstange erreicht. Die evangelische Kirche, die keinen Papst hat, fährt damit fort, bei der Tötung der einen Ungeborenen mitzuwirken, um andere Ungeborene - also die, deren Mütter sich nach der Beratung gegen eine Abtreibung entscheiden - zu retten. Diese Mitwirkung hat zur Folge gehabt, daß die den Beraterinnen in der Ausbildung vermittelte Ideologie den Eindruck erzeugt, angesichts eines neuen menschlichen Leben bestünde grundsätzlich eine legitime Wahl zwischen Austragen und Abtreiben. Die Tötung des Ungeborenen sei also eine - wenn auch weniger wünschenswerte, so doch im Grunde akzeptable - Alternative, statt mit den Frauen unter der Voraussetzung, daß Abtreibung grundsätzlich inakzeptabel ist, nach Lösungen ihres persönlichen Problems zu suchen. Diese Ideologie führte dazu, daß auch katholische Beraterinnen in nicht wenigen Fällen zur Abtreibung geraten haben. Daß es bei den evangelischen anders ist, habe ich Grund zu bezweifeln.

Woher kommt dieses Phänomen der Abkehr von der Menschenwürde?

Spaemann: Der vor kurzem in pädagogischen Kreisen noch sehr geschätzte Psychologe B. F. Skinner vertrat in seinem 1971 in den USA erschienenen Buch "Jenseits von Freiheit und Würde", die These, daß die Begriffe Freiheit und Würde mythologische Größen seien, geeignet, den reibungslosen Aufbau und das Funktionieren einer am allgemeinen Wohlbefinden orientierten, wissenschaftlich fundierten Gesellschaft zu behindern. Unsere Kodifizierung der Menschenrechte ist die notwendige Antwort einer wissenschaftlich-technischen Zivilisation auf die extreme Bedrohung durch den Szientismus. Allerdings kommen Sie mit der bloßen Berufung auf die Menschenwürde in der Abtreibungs- wie in der Euthanasiedebatte nicht weiter. Denn auch die andere Seite beruft sich ja auf die Menschenwürde, aber sie spricht Ungeborenen diese Würde ab. Es geht also um die Frage, ob die Würde mit der Existenz eines Menschen beginnt oder zu einem späteren Zeitpunkt.

Wie ist es zu erklären, daß sich letztere Interpretation weitgehend durchgesetzt hat? Was zu dem absurden Resultat geführt hat, daß der Wert der Gesundheit heute höher rangiert als der Wert des Lebens. - Stichwort zum Beispiel: "Wer krank ist, lebt nicht mehr lebenswert."

Spaemann: Wir leben in einer weitgehend hedonistischen Gesellschaft, für die das Wort des amerikanischen Philosophen Richard Rorty gilt: "Es gibt nichts Wirklicheres als Lust und Schmerz." - Mir fällt dazu der Vers von Matthias Claudius ein: "Es gibt was Besseres in der Welt als all ihr Schmerz und Lust." - Eine solche Gesellschaft ist erbarmungslos. Sie ist geneigt, den Leidenden zu beseitigen, wenn anders das Leiden nicht zu beseitigen ist.

In der Union dreht sich die Debatte eigentlich nur noch um das Thema Spätabtreibung. Zeigt das nicht, daß die Union das Wesen der Abtreibung gar nicht mehr erkennt?

Spaemann: So ist es. Ihr Grund dafür, Spätabtreibungen verhindern zu wollen, ist, daß in diesem Alter ungeborene Kinder tatsächlich bei der Tötung Schmerzen leiden. In einer hedonistischen Gesellschaft gibt es dagegen gegen die schmerzlose Tötung eines Schlafenden ohne Angehörige kein wirklich durchschlagendes Argument. Horkheimer und Adorno meinten sogar, es gebe hier nur ein religiöses Argument. Aber religiös möchte die Union keinesfalls argumentieren.

Angela Merkel erwähnt immer wieder das "christliche Menschenbild". Haben Sie den Eindruck, sie weiß, wovon sie spricht?

Spaemann: Ich weiß es nicht. Zum christlichen Menschenbild gehört ja doch wohl unabdingbar, das natürliche Wesen Homo sapiens als Ebenbild Gottes zu verstehen und das Menschsein nicht erst mit dem Selbstbewußtsein beginnen zu lassen.

Noch sind Stammzellenforschung und Sterbehilfe bei uns tabu. Müssen wir uns aber auch hier früher oder später auf einen Dammbruch gefaßt machen?

Spaemann: Wenn, dann über die europäischen Institutionen. Die Befürworter, die sich auf nationaler Ebene noch nicht durchsetzen können, versuchen es über das Europaparlament, wo die Hemmungen geringer sind als in Berlin. Ich denke oft: Wenn doch die Grünen ein bißchen grüner wären!

In Deutschland wacht inzwischen ein Nationaler Ethikrat über Fragen des Lebensrechts.

Spaemann: Der Ethikrat wurde von Bundeskanzler Schröder 2001 ins Leben gerufen, weil die Enquetekommission "Ethik und Recht in der modernen Medizin" des Deutschen Bundestages nicht technokratiefreundlich genug war. Schröder hat diesen Rat nach seinem Gutdünken zusammengesetzt. Aber der Rat hat seine Erwartungen wohl auch nicht zu hundert Prozent erfüllt. Ethikkommissionen sind an sich schon etwas Problematisches. Natürlich sind so viele neue Handlungsfelder entstanden, daß das traditionelle Berufsethos zum Beispiel des Arztes nicht mehr ausreicht, deren ethische Beurteilung zu gewährleisten. Es gibt Bedarf an diskursivem Nachdenken. Gefährlich aber werden solche Kommissionen, wenn sie, statt beim Nachdenken zu helfen, zu Autoritäten aufsteigen, an die "das Ethische", das heißt das Gewissen delegiert wird. Nein, jeder einzelne bleibt hier zuständig! Einem Arzt, der in Extremsituationen seine Entscheidung an eine Ethikkommission abträte, dem würde ich mich nicht anvertrauen.

Menschen, die sich für Lebensrechtsfragen - speziell gegen Abtreibung - engagieren, genießen politisch in Deutschland oft einen fragwürdigen Ruf. Wie ist dieses Phänomen zu erklären?

Spaemann: Lebensrechtsgruppen halten das schlechte Gewissen wach. Folglich sind sie nicht beliebt. Wenn sie oft nicht einmal respektiert sind, haben sie sich das manchmal selbst zuzuschreiben. Sie verwechseln mitunter die Ebene des Zeugnisses und die der Effizienz. Ihre Aktionen sind manchmal nicht mehr als nur gut gemeint. Ihre Sprache ist oft eine Sprache für Eingeweihte. Sie haben manchmal etwas Sektenhaftes. Und sie publizieren pausenlos Material für ihre Anhänger ohne nennenswerte Resonanz in der Öffentlichkeit. Vermutlich denken manche Aktivisten, die Schrecklichkeit dessen, wogegen sie kämpfen, rechtfertige einen gewissen Fanatismus. Gegenbeispiel ist die Heidelberger Einrichtung "Die Birke", eine Beratungs­praxis, die, ohne je den Beratungsschein ausgestellt zu haben, hohe Professionalität mit einem eher feministischen, an der Situation der Frau orientierten Ansatz verbindet und Frauen in Not effektiv hilft. Die "Birke" hat eine einzigartige Erfolgsquote aufzuweisen. Aus der Einsicht in die Tatsache, daß man heute schon sehr früh beginnen muß, auf einen Mentalitätswandel hinzuwirken, gehen diese Leute auf Einladung inzwischen auch in Schulen und gestalten faszinierende Unterrichtseinheiten. Übrigens braucht die "Birke", wie man sich denken kann, Geld gegen Spendenbescheinigung. Wollen Sie die Bankverbindung? Hier ist sie: Sparkasse Bensheim, Bankleitzahl: 509 500 68, Kontonummer: 10 08 00 43.

 

Prof. Dr. Robert Spaemann zählt zu den bedeutendsten konservativen Philosophen Deutschlands und gilt als einer der intellektuell profiliertesten Kritiker der Abtreibung und der Relativierung des Menschen durch die Gentechnik. Anfang September weilte er auf Einladung Papst Benedikts XVI. in dessen Sommerresidenz Castelgandolfo zu einem Papst-Semninar über Glaube und Evolution. Spaemann veröffentlichte zahlreiche Bücher und Aufsätze unter anderem in der FAZ, Welt, Zeit oder Cicero. Er lehrte in Stutt-gart, Heidelberg, München, an der Sorbonne, in Rio de Janeiro und Salzburg. Seine Werke sind in 13 Sprachen übersetzt. Geboren wurde Spaemann 1927 in Berlin.

Wichtigste Veröffentlichungen: "Moralische Grundbegriffe" (Beck, 1999), "Der Ursprung der Soziologie aus dem Geist der Restauration" (Klett-Cotta, 1998), "Evolutionismus und Christentum" (Acta Humaniora, 1986), "Evolutionstheorie und menschliches Selbstverständnis" (Acta Humaniora, 1984)

Foto: "1.000 Kreuze für das Leben"-Marsch in Berlin (2002): "Lebensrechtsgruppen halten das schlechte Gewissen wach, folglich sind sie nicht beliebt"

 

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