© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 39/06 22. September 2006

Pankraz,
die blauen Falter und der absolute Duft

Frage zum Film "Parfum" nach dem Roman von Patrick Süskind: Gibt es denn wirklich den "absoluten Duft", der mächtiger ist als Leben und Tod und dem man sich vollkommen ausliefert, auch um den Preis des eigenen Untergangs? Antwort: Ja, es gibt ihn, allerdings nicht beim Menschen, sondern eher in der Welt sogenannter "niedriger" Gattungen, bei den Insekten zum Beispiel, deren Treiben uns ja in vielen Belangen oft abgrundtief fremd und unendlich grausam erscheint.

Da ist zum Exempel die Raupe eines schönen Schmetterlings, des großen Moor-Bläulings (maculinea telaios), die in der ersten Phase ihres Daseins zwischen grünen Blättern sitzt und sich von ihnen dick und rund frißt. Um sich aber zum feenhaft blauen Falter verpuppen zu können, benötigt sie eine spezielle Zusatznahrung, nämlich das Fleisch von Ameisenkindern. Also läßt sie sich auf den Erdboden fallen und harrt dort der Dinge, die da kommen mögen. Und dabei entwickelt sie einen Duft, der weit reicht und alsbald viele Ameisen anlockt.

Die Ameisen stürzen sich auf die Raupe und schleppen sie in den Ameisenbau, freilich nicht, um sie dort aufzufressen oder sie an den Nachwuchs zu verfüttern, sondern im Gegenteil: um sie ihrerseits mit Ameisenlarven zu füttern. Sie kriegt den besten Platz im Nest, der ganze Stamm steht Schlange, um sie liebevoll zu betrillern, sie sauberzuhalten - und vor allem, um sie zu atzen und zu mästen, und zwar mit den eigenen Kindern! Der ganze Ameisenstamm begeht gleichsam kollektiven Selbstmord um des blauen Schmetterlings willen. Und einzig erkennbare Ursache dafür ist der Duft, den dessen Raupe ausströmt, der absolute Duft, der Henkerduft.

Es handelt sich hier keineswegs um eine Art Biozönose oder Symbiose, also um keine Lebensgemeinschaft, wo man gibt, um zu empfangen. Die Ameisen, die ihren Nachwuchs so eifrig an die Maculinea verfüttern, bekommen von ihr keinen materiellen Ausgleich, etwa Zuckersäfte, durch die sie selber fett werden. Es ist einzig der Duft, der sie betört und zu Stammesmördern werden läßt, der absolute Duft ohne sonstigen Nutz und Frommen, der Duft als Ziel allen Da- und Weltseins.

Einige Forscher sagen (man ist gerade dabei, die Sache genau zu erforschen), daß der Duft der Maculinea faktisch identisch sei mit dem Duft, den die heimatlichen Ameisenlarven ausströmen, so daß die törichten Ameisen nicht bezaubert, sondern lediglich auf schnöde Weise getäuscht würden - ein simpler Täuschungstrick, wie er auch anderswo dauernd in der Natur vorkommt. Aber dies ist gänzlich unwahrscheinlich. Wenn simpler Heimatduft, weshalb dann die Mühen der Jagd auf die Bläulingsraupe, die Mühen des Transports, die Zerstörung des eigenen Stammes?

Wenn schon Heimatduft, dann muß das ein ganz und gar einmaliger Heimatduft sein, ein Über-Heimatduft, die Heimat an sich gewissermaßen. Seine Wahrnehmung ist derart machtvoll, daß sich die Ameisen in ihr mehr zu Hause fühlen als in der Befolgung tiefst eingeschliffener Selbsterhaltungsinstinkte. Das wahre Leben und seine Fortdauer verblassen zur Gänze in der Konfrontation mit jenem Duft, der auf überwältigende Weise die Heimat lediglich verheißt, während er doch Tod und Untergang transportiert.

Die Sache kommt einem unheimlich bekannt vor. Auch unter uns Menschen geistern ja immer wieder Verheißungen, die einem eine Über-Heimat in Aussicht stellen, eine Heimat, in der noch niemand war und die trotzdem die eigentliche, die unendlich vollkommene sein soll. Solche Verheißungen, Ideologien oder Utopien genannt, aktivieren - genau wie der absolute Duft bei den Ameisen - ungeheure Energien, totalen Einsatz, blinden Raubbau an den verborgensten Überlebensreserven. Aber ihr Endeffekt ist - genau wie beim absoluten Duft - stets tödlich.

Man kann den Satz wagen: Was beim Menschen die Utopie, das ist bei den Tieren, wenigstens bei den Insekten und hier speziell bei den sozialen Ameisen, der absolute Duft - eine tödliche Verführung, die wohl zum Leben dazugehört, seine dunkle Folie darstellt. Wer den absoluten Duft hat, der braucht keine Utopien, und folglich gilt auch: Wer diesen Duft nicht hat, der "braucht" Utopien. Absoluter Duft wie absolute Utopie bringen feenhaft schöne Schmetterlinge hervor, aber es sind nicht die jeweils eigenen, sondern Wesen aus einer völlig anderen Welt, Anti-Wesen.

Alle Menschen - Pankraz hat es in seinem Buch "Der Leib und die Seele" von 2004 ausführlich geschildert - sind in bezug auf Duftwahrnehmung elende Stümper und Mängelwesen, regelrecht aus der Schöpfung herausgefallen. Wir riechen faktisch nichts. Das, was wir riechen, bilden wir uns zum großen Teil nur ein, verbinden es sofort mit Vorstellungen aus der Bilderwelt, fassen es ungeschickt in Sprache, verpacken es verschämt in Geschichten über das Riechen, die im Urteil der Leser für sich selber stehen müssen, ohne auch nur den geringsten Eindruck von den wirklichen Duftwelten geben zu können, die um uns herum existieren.

Insofern war schon das Buch von Süskind seinerzeit ein schier tollkühnes Unternehmen, eine literarische Nanga-Parpat-Expedition mit vielen Toten und einem Gipfelkreuz, von dem niemand sagen kann, ob es an der richtigen Stelle steht. Mit dem Film von Tom Tykwer verhält es sich ähnlich. Beide, Buch wie Film, sind gut, aber sie sind deshalb gut, weil sie außerordentlich auslegungsfähig sind wie kaum ein anderes neueres Kunstwerk. Jeder findet schönes Material darin, um sich seine eigene Riechwelt zusammenzubauen.

Pankraz nimmt Buch und Film als große Metapher für die Verführbarkeit alles Lebendigen durch den Tod, komme er nun als absoluter Duft, komme er als Utopie. Wir Menschen, die wir statt des Duftes die Utopie haben, können diese immerhin einhegen, bedenken, sogar für maßvolle Unternehmungen nutzbar machen. Nichts anderes als das unterscheidet uns von den Ameisen.


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