© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 39/06 22. September 2006

Mikrokosmos für die europäische Tragödie
Nirgendwo wird Glanz und Scheitern des alteuropäischen Miteinanders besser deutlich als in Czernowitz
Eberhard Straub

Unius linguae uniusque moris regnum imbecille et fragile est", gab der heilige König Stephan von Ungarn um 1030 zu bedenken - ein jedes Reich, in dem es nur eine Sprache und gleichförmige Sitten gibt, ist schwach und zerbrechlich. Erst seit der Französischen Revolution gilt es als Herausforderung, in Übereinstimmung mit der einen Vernunft in den jeweiligen Staaten sprachliche und rechtliche Vielfalt zu vereinheitlichen, um zur einen und unteilbaren Nation zu gelangen, in der sich der Wille des Volkes einig mit sich selbst zur Geltung bringt. Sämtliche Europäer folgten dem französischem Beispiel zu ihrem Verderben. Nirgendwo ließen sich die Völker, die seit Jahrhunderten miteinander zusammenlebten, säuberlich trennen. Nach 1815 warnten Konservative deshalb gerade in Österreich vor der Nation als bloßem Naturtum, das Europa in vollständige Unordnung stürzen würde, gäbe man den nationalen Erwartungen nach.

Das galt vor allem für Österreich-Ungarn, das nur bestehen konnte, wenn es mit übernationalen Lebensformen den Nationalismus zu entkräften und dessen Verheißungen zu widerlegen vermochte. Das gelang nur vorübergehend, da der demokratische Gedanke die Volkssouveränität voraussetzt, damit sich eine volonté générale bilden und herrschen kann. Spätestens 1918 löste sich das alte Europa endgültig auf, das der K.u.K.-Vielvölkerstaat ein letztes Mal veranschaulichte. Seitdem leben die meisten Völker Mitteleuropas nicht mehr, wie Carolus L. Cergoly, ein altösterreichischer Triestiner, 1979 bemerkte, weil getrennt von ihrer ehemaligen Geschichte, die nicht einmal mehr ihre Vergangenheit ist. Das war für ihn ein Zusammenbruch und der Beginn einer Metamorphose wie im 5. Jahrhundert am Ende des allmählichen Zerfalls des Römischen Reiches.

Helmut Braun als Herausgeber führt mit Erinnerungen an Czernowitz mitten hinein in die "Geschichte einer untergegangenen Kulturmetropole". Czernowitz und die Bukowina - heute zur Ukraine gehörig - kamen 1774 zu Österreich. Es handelte sich um eine unter den Osmanen vernachlässigte Gegend. In wenigen Jahrzehnten wurde diese neue Provinz unter Anleitung der Wiener Bürokraten kultiviert und dem Niveau des Reiches angenähert und damit zur lokalen Autonomie befähigt. Das hieß auch, das Land, vorzugsweise von Rumänen und Ruthenen bewohnt, neuen Siedlern zu öffnen, Deutschen vor allem, Polen und Juden, die sich, um im weiten Reich ihre Chancen wahrzunehmen, bereitwillig der deutschen Kultur anglichen.

Die deutsche Kultur und Sprache wirkten wie ehedem die römische Zivilisation und das Latein, die Vereinzelten verbindend und in einen großen Zusammenhang versetzend. So schilderte Claudio Magris mit seinem schönen Buch über die Donau 1986 die Leistungen des alten Österreich. Im Baedeker von 1913 heißt es: "Die Speisehäuser haben in der ganzen Monarchie die gleiche Einrichtung." Aber nicht nur die Speisehäuser, die von Felner und Helmer entworfenen Theater glichen einander, die Museen, die Universitäten, die Bahnhöfe und Gerichtsgebäude. Czernowitz um 1900 unterschied sich höchstens durch die landschaftliche Lage von Linz, Klagenfurt, Agram oder Hermannstadt, so wie im alten Rom Köln, Trier oder Mailand den Komfort boten, wie er in einer römischen Siedlung üblich war.

Die Schulen, die Universität, Zeitungen, Theater und Musik verbanden Czernowitz mit den übrigen Teilen des Reiches. Da dort keine Nation dominierte, hielten sich alle als Minderheiten wechselseitig in Schach, was bis gegen Ende des 19. Jahrhunderts ein gedeihliches Zusammenleben erlaubte. Juden und Deutsche, voneinander kaum zu unterscheiden, verstanden sich gemeinsam als "Kulturträger", obschon auch sie begannen, sich voneinander abzusetzen, indem Juden sich zum Zionismus bekannten und Deutsche sich vom Antisemitismus der sich sozial und national benachteiligt fühlenden Polen, Rumänen und Ukrainer beeinflussen ließen, die einander freilich ununterbrochen mißtrauisch beobachteten. Dennoch war die Zeit bis 1918 die be-ste in der Geschichte von Czernowitz.

Danach fiel es an Rumänien, und es begann die heftige Rumänisierung, die vor allem Juden um ihre bürgerliche Gleichstellung brachte. Sie wurden energisch aus dem öffentlichen Leben abgedrängt. Was die Rumänen ihnen aber nicht rauben konnten, war die Kultur und Sprache. Gerade in der Zwischenkriegszeit reihte sich Czernowitz ein unter die Reihe der durch ihr literarisches Leben bedeutenden deutschen Städte. Rose Ausländer, Alfred Gong, Alfred Kittner oder der junge Gregor von Rezzori waren geprägt von den Diskussionen in Wien, Leipzig oder Berlin. Sie begriffen sich als Deutsche und Czernowitz als unmittelbar zugehörig zu einer deutschen Kultur, die einem übernationalen Humanismus diente. Das war allerdings spätestens ab 1933 eine Illusion. Viele Deutsche bekannten sich in der Auseinandersetzung mit den Rumänen zum Nationalsozialismus und trennten sich von den deutschen Juden, denen sie ihre Zugehörigkeit zur deutschen Kultur absprachen.

Nach dem Pakt zwischen Hitler und Stalin 1939 begann das Ende einer Epoche, die trotz zunehmender Schwierigkeiten im Zusammenleben seit 1774 gedauert hatte. 1940 besetzten sowjetische Truppen die Bukowina. Sofort wurden Tausende von Juden verschleppt, viele Deutsche brachen "heim ins Reich" auf. Aussiedlung und Umsiedlung sollten von nun an für nationale Homogenisierung sorgen. Ab Sommer 1941 besetzten die Rumänen, Verbündete Deutschlands im Krieg gegen die Sowjetunion, wieder die Bukowina. Das bedeutete die Verschleppung der Juden zu Zwangsarbeit oder ihre Ermordung. Mit der nahezu vollständigen Vernichtung der Juden war auch Czernowitz um sein Leben gebracht. Als Ende 1944 die Russen wieder einmarschierten, richteten sich die Säuberungen vor allem gegen Rumänen, gegen noch verbliebene Deutsche und Juden, gegen jeden, der im Verdacht stand, gegen die Sowjetunion gekämpft zu haben oder deren Vorherrschaft zu fürchten. Bis spätestens 1947 war die Bevölkerung fast vollständig ausgetauscht. Czernowitz ist seitdem eine ukrainische Stadt mit einer starken russischen Minderheit.

Es ist nur ein Beispiel, freilich eines der fürchterlichsten, für die Untergänge, die sich damals ereigneten, Untergänge verursacht von den heftigen Nationalismen, die miteinander kämpfend zuletzt sich selbst ihre Lebensgrundlage entzogen. Auf drastischste Weise bestätigten diese Verfolgungen, Ermordungen und Vertreibungen, daß die Idee der Nation keine Ordnung schafft, sondern Ordnungen umstürzt und zerstört. Wer heute in Czernowitz lebt, versucht, die Überbleibsel verlorenen Lebens zu hüten. Das ist aller Ehren wert. Aber es führt vorerst kein Weg zurück in eine unvertraute Vergangenheit, die gleichwohl irgendwann mit der Geschichte eines ganz anderen Czernowitz verbunden werden wird, wie ja auch Colonia Agrippina längst zur Geschichte Kölns gehört. Denn neues Leben blüht aus den Ruinen im Zusammenhang mit den Metamorphosen der Gesellschaft und schafft dem verschwundenen Leben wieder Dauer über künftige, vorerst kaum zu ahnende Geschichtsbilder.

Helmut Braun (Hrsg.): Czernowitz. Die Geschichte einer untergegangenen Kulturmetropole. Ch. Links Verlag, Berlin, 2005, gebunden, 181 Seiten, Abbildungen, 29,90 Euro

Foto: K.u.K.-Herrlichkeit in Czernowitz, 1905: Deutsche Kultur und Sprache die Vereinzelten verbindend


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