© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 40/06 29. September 2006

Vier-Stufen-Modell
Auf dem Weg zur Normalität: Die Entwicklung zu mehr Patriotismus ist im Alltag spürbar
Richard Hausner

Rückblende: Es ist der 9. Juli 1990, und wir Schüler der 11. Klasse eines Gymnasiums im Landkreis München haben in den ersten beiden Stunden Sportunterricht - einen Tag nach dem Gewinn der Fußball-WM in Italien. Der Sportlehrer hält sich an den Lehrplan, Geräteturnen ist angesagt. Ein Schüler protestiert: "Wahnsinn, das gibt's ja nur in Deutschland, wir sind gestern Fußballweltmeister geworden, und jetzt machen wir Geräteturnen. In jedem anderen Land würde heute Fußball gespielt." Der Lehrer erwidert nichts.

Keine zwölf Stunden nach dem WM-Triumph ist also bereits der Alltag wieder eingekehrt. Ein Auto, das am gleichen Tag eine Hauptstraße in Ottobrunn Schwarz-Rot-Gold schwenkend rauf und runter fährt, wirkt reichlich exotisch, und ein Schüler, der ein paar Tage später mit der Deutschlandfahne zum Wandertag erscheint, wird für verrückt oder rechtsradikal erklärt, bestenfalls verlacht.

Spätsommer 2006: Die Weltmeisterschaft ist seit Wochen vorbei, Deutschland mußte sich mit dem dritten Platz begnügen. Und trotzdem: Allerorten hängen noch die deutschen Fahnen an den Balkonen oder in den Gärten - sie sind eben nicht eingeholt, wie Ellen Kositza das behauptet (JF 36/06) -, sogar in Miesbach im tiefsten Oberland, das eigentlich vom bayerischen Weiß-Blau dominiert wird. Am Spitzingsee ist Seefest, die Luftballonverkäuferin trägt ein T-Shirt, auf dem in großen Buchstaben "Schwarz, Rot, Gold" in den jeweiligen Farben geschrieben steht. Und selbst vor einem Testspiel des Bundesligisten 1. FC Nürnberg gegen den israelischen Meister Maccabi Haifa wird im österreichischen Bramberg die deutsche Hymne gespielt.

Tatsächlich hat sich Deutschland in den letzten Jahren verändert. Erste Anzeichen dafür gab es bereits im Sommer 2002, als nach dem WM-Halbfinalsieg der deutschen Fußball-Nationalmannschaft über Südkorea plötzlich Hunderte Fans auf der Münchner Leopoldstraße die Nationalhymne sangen. Seither ist "Einigkeit und Recht und Freiheit" ein ständiger Begleiter bei Auswärtsspielen der deutschen Elf. Die Fahnenhersteller konnten nach dem überraschenden Finaleinzug vor vier Jahren die große Nachfrage nicht mehr bewältigen und drückten den Leuten nur noch schwarzen, roten und goldenen Stoff in die Hand, damit sie sich die Fahnen selbst bastelten.

Diese Stimmung befeuerte Bundespräsident Horst Köhler mehrmals, besonders bewegend in seiner Dankesrede im Anschluß an seine Wahl am 23. Mai 2004, als er versicherte: "Ich lieber unser Land." Ins gleiche Horn stieß Papst Benedikt XVI. bei seiner Ankunft in Köln anläßlich des Weltjugendtages am 18. August 2005: "Zum ersten Mal nach meiner Wahl auf den Stuhl Petri stehe ich heute voll Freude auf dem Boden meines lieben Vaterlandes, Deutschland." Auffallend in Köln die vielen deutschen Fahnen der Pilger. Es lag also etwas in der Luft, als die Fußball-Weltmeisterschaft immer näher rückte und dann schließlich die Funktion eines Ventils für das über Jahrzehnte angestaute und unterdrückte Nationalgefühl einnahm.

Nun stellt sich die Frage, wie sehr und wie dauerhaft sich unser Land bereits verändert hat. Sind wir schon in der Normalität angekommen? Die Antwort lautet: Nein, aber wir sind auf dem besten Wege dazu. Und zwar seit einigen Jahren, die Fußball-Weltmeisterschaft wirkte als radikaler Beschleuniger eines Prozesses, der inzwischen seine erste Stufe abgeschlossen hat. Das Wichtigste: Vor allem den Kindern wurde das positive Verhältnis zu Schwarz-Rot-Gold eingepflanzt.

Am 8. Juli ist Sommerfest in einem Kindergarten bei München. Überall zieren schwarzrotgoldene Fähnchen, zum Teil von den Kindern selbstgemalte, die beiden Zimmer. Seit Beginn der WM werden Fähnchen an die Knirpse verteilt, die Kinder zudem aufgefordert, sich bei einem Sieg der deutschen Elf in den Nationalfarben zu schmücken, was sie denn auch tun.

Das steckt an. Die vierjährige Julia - Kind polnischer Eltern - geht im multikulturellen Neuperlach ("Klein-Istanbul" in München) in den Kindergarten und will unbedingt schwarzrotgold geschminkt sein, weil das so viele sind. Meine fünfjährige Tochter ist bei unseren Nachbarn beim Spielen. Diese sind Kurden aus dem Irak und haben ein sechsjähriges Mädchen namens Sarah. Bei ihrer Rückkehr ist meine Tochter im Gesicht schwarz-rot-gold angemalt. Sarahs Mutter hat beide Kinder geschminkt, das ihrige am Oberarm. Sarah sagt: "Wir haben Schwarz-Rot-Gold, jetzt sind wir beide Freunde."

Kinderbibeltage in Taufkirchen. Die Gruppenleiterinnen unterhalten sich und stellen erstaunt fest, wie begeistert und unbelastet die Kinder mit Nationalsymbolen wie Fahne und Hymne umgehen. Das zeigt sich später eindrucksvoll, als beim Verzieren eines Fisches zwei Kinder wie selbstverständlich Schwarz-Rot-Gold hinzufügen. Da paßt es ins Bild, daß am Rathaus von Vaterstetten eine Gruppe Schulkinder die Nationalhymne singend vorbeizieht und noch Ende August auf einem Friedhof in Neubiberg bei zwei Gräbern Deutschlandfähnchen angebracht sind.

Dieser unverkrampfte Umgang unserer Kinder mit den Nationalsymbolen ist nicht mehr rückgängig zu machen und wird langfristig seine Wirkung entfalten. Unsere Nationalfarben haben eine Neugeburt erlebt und sind dauerhaft positiv besetzt mit den phantastischen Erlebnissen während der WM. Das ist ein solides Fundament, auf dem man aufbauen kann, denn das, was durch die Fußball-WM seinen Durchbruch geschafft hat, ist weit mehr als eine Party-Laune. Die (schweigende) Mehrheit der Deutschen ist erleichtert darüber, endlich wieder nationale Symbole positiv besetzen zu dürfen, und hofft auf eine Normalisierung.

Natürlich darf man sich mit dem Schwenken von Fahnen nicht zufriedengeben, konkrete Auswirkungen müssen folgen. Das ist die zweite Stufe, die bereits im vollen Gange ist. Es geht darum, sich mit Deutschland zu beschäftigen. Auf die zahlreichen Veröffentlichungen, die in den vergangenen Jahren die Rückbesinnung auf die eigene Identität zum zentralen Thema machten, hat Kositza hingewiesen. Auch die Dauerausstellung im Deutschen Historischen Museum in Berlin mit der territorialen Entwicklungsgeschichte Deutschlands in der Eingangshalle - eindrucksvoll wird dargestellt, wie unser Land immer kleiner wurde - oder der Spiegel-Aufmacher "Der Deutschen Reich" anläßlich des Untergangs des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation vor 200 Jahren leisten hier ihren Beitrag.

Damit eng verzahnt ist eine Hinwendung zum Deutschen in der Musik, die so neu zwar nicht ist, aber doch während der WM weitere Erfolge für sich verbuchen konnte. Wurde bis zur WM bei Toren der Nationalelf in den Stadien "Black and White" gespielt, war nach dem Sieg über Polen nur noch die deutsche Version zu hören. Auf einer kurz vor der WM erschienenen CD mit dem Titel "Halbzeit - Hits 2006 & Fußball-Classics" findet sich neben "Azzuro" von den Toten Hosen auch ein Instrumentalstück der deutschen Nationalhymne. Bisher war derartiges nur auf Veröffentlichungen von rechten Kreisen zu hören. Äußerst wertvoll wären Kinofilme über wichtige Ereignisse der deutschen Geschichte aus der Zeit vor 1900 im Stil von "Braveheart". Sönke Wortmann ist hierfür ein heißer Kandidat.

In einer dritten Stufe wird es dann darum gehen, Deutschland lieben zu lernen. Ein echter Patriotismus, bei dem für das Wohl der Gemeinschaft persönliche Anstrengungen in Kauf genommen werden, muß entstehen. Dafür brauchen wir allerdings eine geistige Wende, welche die radikale Selbstverwirklichung, den Egoismus, die rein materielle Sicht und die damit verbundene Oberflächlichkeit zurückdrängt. Die Tatsache, daß mit Benedikt XVI. ein deutscher Papst an der Spitze der katholischen Kirche steht, könnte sich als Glücksfall erweisen. Erste Tendenzen sind erkennbar. Eine Untersuchung der Unternehmensberatung McKinsey hat herausgearbeitet, daß fast jeder dritte deutsche Katholik durch den Weltjugendtag einen neuen Impuls für seinen Glauben erhielt und es außerdem wieder mehr regelmäßige Gottesdienstbesucher gibt. Joachim Meisner, der Erzbischof von Köln, meinte gar, die Jugend hätte den Älteren eine Lektion erteilt. Hinzu kommen die klaren Aussagen von Benedikt XVI. im Hinblick auf Demut, Verzicht und Selbstannahme. Ihm schenken die Menschen Gehör, seine Beliebtheit und Akzeptanz wächst ständig.

Wenn wir zu uns selbst stehen und unser Land bejahen, dann gelingt auch die Integration der Ausländer in unsere Leitkultur. Dies muß nicht unbedingt erst in einer vierten Stufe vollzogen werden, diese Entwicklung kann durchaus parallel zu den ersten drei Stufen erfolgen. Ansätze waren schon während der WM zu erkennen, als sich viele Ausländer von der schwarzrotgoldenen Begeisterung anstecken ließen. Je mehr wir selbst von unserem Land begeistert sind, desto attraktiver wird es auch für andere Nationalitäten. Und die Begeisterung darf groß sein, schließlich haben wir es ja doch noch geschafft: Weltmeister im eigenen Land - die Hockey-Herren haben in Mönchengladbach ihren Titel verteidigt!

Foto: Weihnachtsbaum in den Farben Schwarz-Rot-Gold: Rund 700 einzeln mundgeblasene und handbemalte Glaskugeln der thüringischen Glasschmuckfirma Krebs Glas aus Lauscha zieren den 1,80 Meter hohen Baum. Seit der Fußball-Weltmeisterschaft ist die Nachfrage im Handel nach den Nationalfarben enorm gestiegen.


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