© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 40/06 29. September 2006

Leitkultur oder Patriotismus?
von Thomas Bargatzky

Der Übergang der Moderne in die Postmoderne bedeutet die Infragestellung der Nationalstaaten durch die Welt der Netzwerke. Nationalstaaten entwickelten ihre Identitäten in ihren durch Grenzen abgeschlossenen Territorien. Netzwerke haben dagegen weder Zentrum noch Peripherie; sie sind Substrat und Infrastruktur der ökonomischen Globalisierung. Unter der Ägide der Netzwerke bildet sich, so scheint es, ein neuer Typ gesellschaftlicher Beziehungen heraus: die "supranationale Identität". Toleranz und Multikulturalität präsentieren sich als Leitideen dieser neuen Identität. Wie tragfähig sind diese Ideale für das Zusammenleben in einer komplexen modernen Gesellschaft?

Die Beschwörung von Toleranz als Leitidee für die von vielen herbeigeträumte "multikulturelle Gesellschaft" macht zur Zeit der Erkenntnis Platz, daß dieser Gesellschaft die Tendenz innewohnt, in eine Vielfalt von Gruppen und Gemeinschaften ohne verbindliche gemeinsame Werte auseinanderzudriften. Der Verfassungsrichter Udo di Fabio konfrontiert daher die bislang in Deutschland praktizierte Toleranzpolitik und ihre Integrationsofferten, die der kulturellen Fragmentierung der Gesellschaft entgegenwirken sollen, mit der Frage, warum sich denn Angehörige anderer und vitaler Kulturen überhaupt in die westliche Kultur integrieren sollen, wenn deren Träger selber dabei sind, sich von ihr zu verabschieden. Nicht die Ausländer sind jedoch das Problem, die Deutschen selber sind es, da sie anscheinend nicht mehr in der Lage oder auch nur willens sind, den Zuwanderern, ihren Kindern und Enkeln eine Gesellschaft zu bieten, in die sie sich integrieren können oder wollen.

In dieser Lage werden von Politikern, Philosophen und Wissenschaftlern seit längerer Zeit zwei Konzepte in die gesellschaftspolitischen Debatten eingebracht, von denen sie sich Hilfestellungen erwarten, um einem Zerfall der Gesellschaft entgegenzusteuern: "Leitkultur" und "Verfassungspatriotismus". Eine Gemeinschaft braucht Regeln, ein Staat Gesetze - braucht er jedoch eine "Leitkultur", braucht er "Verfassungspatriotismus"? Unsere Gesetze stellen Mord unter Strafe, auch den sogenannten "Ehrenmord". Genügt es nicht, jene, die gegen unsere Gesetze verstoßen, angemessen zu bestrafen? Wer eine Debatte über eine deutsche Leitkultur fordert oder den Verfassungspatriotismus beschwört, will jedoch mehr, als nur Einwanderer und ihre Söhne, die aufgrund ihrer überlieferten Ehrbegriffe bei uns zu Mördern werden, mit den Mitteln des Strafrechts zu verfolgen. Er möchte jene Werte und Einstellungen selber bekämpfen, die einen jungen Türken in Berlin dazu bewegen, seine Schwester zu erschießen, nur weil sie ein Leben "wie eine Deutsche" führen möchte. Im Ruf nach einer Debatte über die deutsche Leitkultur kommt daher der Wunsch zum Ausdruck, das Zusammenleben der Menschen unterschiedlicher kultureller und ethnischer Herkunft innerhalb der Grenzen unseres Landes auf ein Fundament gemeinsamer Werte und Einstellungen zu stellen.

In einem Nationalstaat wie Deutschland inkulturieren staatliche und gesellschaftliche Institutionen das Individuum in die Nation. Diese Institutionen müssen jedoch gepflegt werden, sonst können sie dieser Aufgabe nicht gerecht werden.

Der Begriff "Leitkultur" ist jedoch für solch eine Debatte untauglich, weil tautologisch. "Kultur" ist ja immer schon etwas Normsetzendes, "Leitendes". Der Begriff "Kultur" kommt ja von lateinisch cultura und dem entsprechenden Verbum colere, dem Pflegen im Sinne des Gartenbaus. Geht es bei der Debatte über die deutsche Leitkultur also im Grunde nur um deutsche Kultur im Sinne des gemeinsamen Brauchtums, gemeinsamer Überzeugungen und Leistungen der Deutschen im Verlauf ihrer Geschichte? Wenn man sich die unterschiedlichen Moralauffassungen der Deutschen vor Augen hält und die Vielfalt der Sitten und Gebräuche zwischen Flensburg und Garmisch, Aachen und Görlitz hinzuzählt, dann gibt es in Deutschland jedoch keine gemeinsame Kultur, dann hätte es niemals eine besessen.

Könnte die Erziehung zu einem "Verfassungspatriotismus" hier Abhilfe schaffen? Jürgen Habermas ist seit den Tagen des "Historikerstreits" immer wieder dafür eingetreten, daß positive Entwicklungsmöglichkeiten gerade darin bestünden, Menschen aus hergebrachten kulturellen Systemen zu lösen. Ein Recht auf Abgrenzung widerspreche universalistischen, liberalen und demokratischen Grundsätzen, da es immer auf Diskriminierung beruhe. Die "postnationale Konstellation" verlange den Bürgern zwar die Anpassung an immer stärker divergierende Lebensformen ab, aber Habermas glaubt, daß es durchaus möglich sei, als Ausgleich einen "Verfassungspatriotismus" im Sinne eines Konsens über das Verfahren legitimer Rechtsetzung und Machtausübung in der "Zivilgesellschaft" zu installieren, der die Grundlage eines neuen Gemeinwesens jenseits des Nationalstaates bilden könne. Nur die Zivilgesellschaft mit ihrer Orientierung an einer neuen Form des Zusammenlebens, das alle "völkischen" Differenzen überwinde, stehe für eine humane Zukunft.

Ein so blutleeres Konzept wie "Verfassungspatriotismus" mag zwar Seminar und Gelehrtenstube mit Diskussions- und Reflexionsstoff versorgen, zur Identitätsstiftung für ein Gemeinwesen ist es jedoch ungeeignet. Wer sich Gedanken darüber macht, wie Einwanderern per Leitkultur oder Verfassungspatriotismus gemeinsame Werte "vermittelt" werden können, stellt ferner die Dinge gleichsam auf den Kopf. Ideen müssen Halt in den Institutionen finden, sonst können sie nichts bewirken, wie Arnold Gehlen lehrt. Der Ruf nach Integration wird ungehört verhallen, wenn die institutionellen Voraussetzungen dafür nicht geschaffen werden, daß sich ein Gefühl für Gemeinsamkeit in Deutschland entwikkeln und Wurzeln schlagen kann.

Staat und Nation sind vom Wesen her nicht identisch. In der Hierarchie der politischen Systeme ist der Staat immer noch die höchste souveräne Einheit der Regierung und Verwaltung der Bürger eines Territoriums. Die Nation ist sehr viel schwieriger zu bestimmen. In letzter Instanz ist sie heute Ausdruck des Gefühls der Zusammengehörigkeit der Menschen eines Kulturraums. Man muß ihr nicht stets durch Geburt angehören, man kann sich aus freiem Entschluß zu ihr bekennen, wie es bei der erfolgreichen Naturalisierung von Einwanderern der Fall ist. In einem Nationalstaat wie Deutschland inkulturieren staatliche und gesellschaftliche Institutionen das Individuum in die Nation. Diese Institutionen müssen jedoch gepflegt und intakt gehalten werden, sonst können sie dieser Aufgabe nicht gerecht werden. Die Identität, die durch den Ruf nach "Leitkultur" und "Verfassungspatriotismus" beschworen wird, nachdem die Vision der multikulturellen Gesellschaft sich als Illusion erwiesen hat, ist die Summe der Leitideen, die im Substrat unserer Institutionen wurzeln.

Identitätsschaffende Institutionen und Symbolsysteme sind in den Nationalstaaten Europas seit jeher unter anderem Sprache, Familie, Kirche, Schulen, Universitäten, Streitkräfte, aber auch Theater, Sinfonieorchester, Opernhäuser. Jede dieser Institutionen stellt, für sich genommen, eine Verfallsgeschichte dar, denn seit der unseligen "Revolution" von Achtundsechzig gilt eine anti-institutionalistische Haltung in Deutschland als chic, sie ist geradezu eine Signatur unserer Zeit. Das geistig-moralische Vakuum, das heute den Ruf nach einer Leitkultur in Deutschland laut werden läßt, entstand als Folge jenes Bruchs mit tradierten Institutionen, Symbol- und Wertesystemen. In Deutschland mit seiner tiefen Verunsicherung und seinen Selbstzweifeln, dem Erbe des untergegangenen Hitler-Reichs, konnte dieser Kulturverfall markanter als anderswo zutage treten. Der Respekt vor überlieferten Institutionen wie Familie, Nation oder Kirche schwand ebenso wie eine bis dahin immer noch stark gebliebene Bindung in Nachbarschaft, Beruf oder Vereinen. An die Verächtlichmachung des christlichen Bekenntnisses, an die Verhöhnung des Papstes, an die Beschimpfung der Familie und die Beschmutzung nationaler Symbole haben wir uns bestens gewöhnt und all das für "Fortschritt" gehalten, meint Udo di Fabio. Gegen diese Diagnose läßt sich wenig einwenden, und die Anamnese ist auch richtig gestellt. In solch einer Atmosphäre des permanenten Tabubruchs kann sich keine integrierende kulturelle Identität entwickeln.

Hinter den Debatten um die Begriffe "Leitkultur" und "Verfassungspatriotismus" verbirgt sich im Grunde die Frage nach der Identität der Deutschen in der Zeit nach Achtundsechzig und der Wiedervereinigung in einem zusammenwachsenden Europa im Spannungsfeld der Globalisierung. Die Nation hat früher solch einem Bedürfnis nach kollektiver Identität in hohem Maße Rechnung getragen. Nationen besitzen integrative Kraft, denn sie beruhen immer auf einer Menge undiskutierter, weil durch die Geschichte selbstverständlich gemachter Vorstellungen und Verhaltensweisen (Karlheinz Weißmann). Sie setzen eine Homogenität voraus, aber nicht in einem rassischen oder "völkischen" Sinn, sondern in einem kulturellen, der die Beherrschung der Sprache als erster großer Heimat des Menschen einschließt, aber in der Sprachbeherrschung nicht aufgeht.

Das Bekenntnis zur Nation ist die Antwort auf die Frage nach der deutschen Identität, welche die Leitkulturdebatte nur verkappt zu stellen wagt. Der Globalisierung zum Trotz ist im Westen die Nation immer noch die umfassendste identitätstiftende menschliche Symbioseform, die zur Identifikation einlädt und Identifikation möglich macht. Nur sie kann die Aufgabe lösen, in einer Zeit des verstärkten Migrationsdrucks den Bewohnern eines bestimmten staatlichen Gebildes, welchen ethnischen Hintergrund auch immer sie haben mögen, gewisse gemeinsame Überzeugungen und Orientierungen näherzubringen, ohne die ein Gemeinwesen nicht bestehen kann. Die Zugewandtheit zur Nation hat einen Namen: Patriotismus.

Patriotismus ist nicht alleine eine Sache des Intellekts. Man kann eine "Leitkultur-Kommission" einberufen und am Grünen Tisch eine Einigung über "zwingend notwendige Prinzipien", "gemeinsame Orientierungen" und "gemeinsame Überzeugungen" erzielen, die Herzen der Menschen wird man dadurch nicht erreichen. Patriotismus ist dagegen nicht nur eine Sache der Vernunft, sondern auch des Gefühls. Er muß seinen Ausdruck in eingängigen Symbolen finden. Seit langem sind Flagge und Nationalhymne polysemantische Symbole der analogen Kommunikation, deren integrative Kraft gerade in ihrer Vagheit, ihrer inhaltlichen Unbestimmtheit liegt. Sie leisten genau das, was keine "Leitkulturdebatte" je erreichen könnte: die Bürger eines Staates, gleich welcher Herkunft und welchen "Migrationshintergrundes", im Bewußtsein und im Gefühl der gemeinsamen Zugehörigkeit zu einer Nation zusammenzuführen.

Was den Umgang mit den Symbolen der nationalen Einheit angeht, können die Deutschen auch von den in dieser Hinsicht von uns oft belächelten USA manches lernen. Gerade die großen Probleme, mit denen Amerika heute aufgrund des durch Migrationsdruck generierten Multikulturalismus konfrontiert wird, machen deutlich, welche kulturenintegrierende Kraft Flagge und Hymne immer noch entfalten können. Sie lassen sich eben nicht auf ein intellektualistisches "Leitkultur-Programm" reduzieren, sondern binden auch die Gemütskräfte ein. Könnten nicht auch wir in Deutschland von anderen Nationen etwas über die Pflege dieser Symbole - cultura! - lernen und zum Beispiel das Hissen der Flagge auf dem Schulhof und das gemeinsame Absingen der Dritten Strophe des Deutschlandliedes durch Lehrer und Schüler in unser Schulwesen übernehmen? Wenigstens einmal im Monat oder zu Beginn des Schuljahres und vor dem Nationalfeiertag? Das ist beileibe kein Allheilmittel für die gegenwärtige Misere, aber vielleicht der Beginn einer Therapie.

Wir benötigen keine Debatten über Kopfgeburten wie "Leitkultur" oder "Verfassungspatriotismus". Wir brauchen wieder einen ganz normalen Patriotismus, wie er auch in anderen Ländern üblich ist. Das freudige und unverkrampfte Bekenntnis zu Schwarz-Rot-Gold während der Fußballweltmeisterschaft, von dem die meisten unter uns ebenso überrascht wurden wie seinerzeit von dem Zusammenbruch der DDR und dem Fall der Mauer, läßt hoffen. Regierungen und Schulbehörden sollten daraus Konsequenzen ziehen und jetzt den Mut aufbringen, das anderenorts Selbstverständliche zu wagen. Dann werden wir Deutschen auch dem Ausland wieder ein wenig geheurer. Man hegt nämlich dort den Verdacht - vielleicht nicht ganz zu Unrecht -, daß wir mit unserem bislang zur Schau getragenen Antipatriotismus nur einmal mehr eine Sonderrolle für Deutschland und die Deutschen reklamieren wollen.

 

Prof. Dr. Thomas Bargatzky, 60, lehrt Ethnologie an der Universität Bayreuth.

Foto: Deutsches Fahnenmeer: Gerade in ihrer Vagheit und inhaltlichen Unbestimmtheit liegt der Wert von Symbolen


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