© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 41/06 06. Oktober 2006

Kolumne
Die Eule der Minerva auf Irrflug
Klaus Motschmann

In letzter Zeit mehren sich Stimmen, die auf eine zunehmende Bereitschaft zur "Anerkennung der Realitäten" hindeuten. Ganz offenkundig wächst die Einsicht, daß sich in der Europapolitik, der Schul- und Bildungspolitik oder der Asyl- und Integrationspolitik vieles doch anders entwickelt hat, als es sich die ideologisierten Konstrukteure der multikulturellen Zivilgesellschaft ausgedacht haben. Das jüngste Beispiel liefern die Auseinandersetzungen um die Entscheidung der Deutschen Oper Berlin, Mozarts Oper Idomeneo vorerst vom Spielplan abzusetzen, weil sich Moslems von der Inszenierung in ihren religiösen Gefühlen verletzt fühlen könnten. Die Deutsche Oper hat damit einen Beitrag der besonderen Art zum Verständnis der Probleme unserer Innen- und Kulturpolitik geleistet. Plötzlich ist bei vielen Kritikern, von denen man es nicht erwartet hätte, die Rede von "vorauseilendem Gehorsam" gegenüber der Political Correctness und einem Kniefall vor den Islamisten. Eine bemerkenswert deutliche Sprache und berechtigte Kritik - leider nur zehn bis fünfzehn Jahre zu spät, und deshalb wenig hilfreich bei der Bewältigung der gegenwärtigen Probleme. Man fühlt sich erinnert an eine treffliche Metapher Hegels über die Eule der Minerva, das antike Sinnbild für Weisheit und Wissenschaft:

"Um noch über das Belehren, wie die Welt sein soll, ein Wort zu sagen, so kommt die Philosophie dazu immer zu spät. Als der Gedanke der Welt erscheint sie erst in der Zeit, nachdem die Wirklichkeit ihren Bildungsprozeß vollendet und sich fertig gemacht hat. - Die Eule der Minerva beginnt erst mit der einbrechenden Dämmerung ihren Flug."

Weil das so ist, konnte sich in Deutschland ein strukturell und institutionell abgesichertes Meinungsklima entwickeln, das nach allen Erfahrungen der Geschichte auch weiterhin einen maßgebenden Einfluß auf das öffentliche Bewußtsein nehmen wird - unabhängig von den gewandelten Einsichten einzelner oder gar der Meinung des Volkes. Der Prozeß der Erosion unserer abendländischen Rechts- und Werteordnung wird vorangehen und damit weitere Irritationen auslösen, die eine zuverlässige Orientierung in der "einbrechenden Dämmerung" verhindern. Einstweilen bietet nur der gemeinsame Kampf aller "Demokraten gegen Rechts" eine klare Orientierung, wie die jüngsten Reaktionen auf die Wahlerfolge der NPD in Mecklenburg-Vorpommern und etlichen Bezirken Berlins belegen. Einige markige Sprüche gegen den Islamismus sollten deshalb keine Illusionen von einem sogenannten Paradigmenwechsel wecken.

 

Prof. Dr. Klaus Motschmann lehrte Politikwissenschaften an der Hochschule der Künste Berlin.


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