© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 41/06 06. Oktober 2006

"Ein gefährlicher Totalitarismus"
Die verfolgte Schriftstellerin Elif Shafak über staatlich verordnete Denkverbote, die Türkei und den Islam
Moritz Schwarz

Frau Shafak, der Prozeß gegen Sie wegen "Beleidigung des Türkentums", weil Sie es gewagt haben, in Ihrem neuen Buch den Völkermord an den Armeniern zu erwähnen, hat weltweit für Schlagzeilen gesorgt. Ist die Einstellung des Verfahrens vor wenigen Tagen ein Zeichen für einen Wandel in puncto Meinungsfreiheit in der Türkei oder nur ein taktisches Manöver?

Shafak: Ich hoffe doch sehr, daß das Urteil sich als ein Wendepunkt erweisen wird. Während des Prozesses gab es diverse hoffnungmachende Signale. So ist die Regierung diesmal sensibler aufgetreten, der Polizeischutz war besser, die Sicherheitskräfte hinderten nationalistische Gruppen daran, verbale oder gar körperliche Gewalt anzuwenden. Noch wichtiger aber war, daß die Zivilgesellschaft mich enorm unterstützt hat. Viele Bürger haben die Nationalisten und den Paragraphen 301 - der die "Beleidigung des Türkentums" unter Strafe stellt - kritisiert. Diesmal war die Stimme der demokratischen und fortschrittlichen Kräfte in der Türkei sehr viel lauter zu vernehmen, als zuvor.

In Deutschland erleben wir eine Einschränkung der Freiheit weniger durch die Regierung als durch die Gesellschaft. Sei es durch "Political Correctness" oder wie jüngst in Berlin durch die Angst vor möglichen Aktionen gewaltbereiter Muslime.

Shafak: Ich unterstütze ganz und gar die Freiheit der Rede, vor allem die Freiheit der Kunst, sich ungehindert auszudrücken. Wir sollten dabei aber vorsichtig sein: Wir sollten im Zuge dieser Freiheit nicht eine Kultur des Hasses und der "Haßsprache" zulassen. Ich wende mich gegen den Haß gegen jedwede Religion, Völkerschaft oder Rasse. Islamophobie kann genauso gefährlich sein wie Anti-Westlertum.

Das sehen aber Frauen wie zum Beispiel die jüngst in Deutschland ausgezeichnete Ayaan Hirsi Ali anders.

Shafak: Ich glaube, daß Menschen wie Ayaan Hirsi Ali mit ihren beträchtlichen Verallgemeinerungen über den Islam nur den Mythos vom Kampf der Kulturen steigern und damit die Islamophobie nähren. Das macht die Dinge nicht besser, sondern schlimmer.

Hirsi Ali oder die eben verstorbene Orianna Fallaci sehen gerade im Kampf der Kulturen das Gebot der Stunde, um die westliche Freiheit vor dem Anspruch des Islam zu schützen.

Shafak: Womit wir es tatsächlich zu tun haben, ist ein "Kampf der Auffassungen" innerhalb eines jeden Landes statt eines "Kampf der Kulturen" zwischen Ost und West. Die einheitliche moslemische Welt existiert nicht, es gibt von einem Land zum anderen gewaltige Unterschiede. Es ist extrem gefährlich, mit solchen Verallgemeinerungen zu arbeiten.

Sie sind zwar selbst eine Anhängerin des Sufismus, weshalb Ihre Bücher übrigens zunächst von den Konservativen sehr geschätzt wurden, aber inzwischen leiden Sie doch selbst unter der Bedrängung durch die islamische Regierungspartei AKP des türkischen Regierungschefs Recep Tayyip Erdogan.

Shafak: Bei der AKP handelt es sich keinesfalls um islamische Fundamentalisten, eher könnte man die Partei als moslemisch-demokratisch oder als konservativ-religiös bezeichnen. Im Grunde brauchen wir neue Definitionen, um sie zu beschrieben. In der Türkei existiert bekanntlich eine Spannung zwischen den islamisch-konservativen und den laizistischen Kräften. Beide Gruppen erscheinen auf den ersten Blick sehr unterschiedlich - aber sie haben vieles gemeinsam. Der rigide Kemalismus kann genauso engstirnig sein wie eine rigide Religionsauffassung. Beide sind maskulinistisch orientiert. Alle strengen Ideologien sind restriktiv. Alle strengen Ideologien sind intolerant gegenüber Andersdenkenden. Was wir aber in der Türkei nicht brauchen, ist eine weitere Polarisierung, wir brauchen eine demokratische Öffentlichkeit und eine demokratische Kultur, die es ermöglicht, daß unterschiedliche Lebensweisen koexistieren können.

Wenn es solche kulturellen Unterschiede innerhalb eines Landes oder Kulturkreises gibt, warum sollen sie dann nicht auch zwischen ihnen existieren? Gibt es vielleicht einen grundlegend unterschiedlichen Freiheitsbegriff zwischen dem Abend- und dem Morgenland?

Shafak: Nein, die Meinungsfreiheit ist ein universaler Wert, den wir alle unterstützen müssen. Deshalb müssen wir zu einer verstärkten Zusammenarbeit zwischen den demokratischen Kräften in der Türkei und in Europa kommen. Überhaupt müssen alle demokratischen Kräfte weltweit stärker zusammenarbeiten, nur so läßt sich der Nationalismus überwinden.

Die moderne Meinungsfreiheit ist ein Produkt der abendländischen Aufklärung. Wird deren weltweite Durchsetzung nicht zwangsläufig von anderen Kulturen immer auch als Angriff auf deren Identität begriffen werden?

Shafak: Es gibt nicht "die eine" Interpretation des Islam. Es gibt ganz unterschiedliche Auffassungen, und das war schon immer so. In der Türkei etwa existiert eine mildere Version, die den Islam und die westliche Demokratie verbindet. Die Türken stehen Europa näher als dem Iran, Syrien oder Marokko. Was mich interessiert, ist die islamische Heterodoxie. Im Islam gibt es Traditionen des Mystischen, die den Weg zur Freiheit ebnen und auch den Frauen geholfen haben, sich auszudrücken. Mein Schreiben hat sowohl heimatliche wie auch internationale Wurzeln. Meine Lieblingsmetapher stammt aus dem Koran, wo von einem Baum namens Tuba zu lesen ist. Doch dieser Baum steht auf dem Kopf, seine Wurzeln ragen in den Himmel. Manchmal, wenn die türkischen Nationalisten mir vorwerfen, ich hätte kein Heimatgefühl, antworte ich ihnen, daß ich wie der Baum Tuba sei: Ich habe durchaus Wurzeln, nur stecken sie nicht im Boden, sondern ich spreize sie weit in die Lüfte.

Im Februar wurde der international bekannte Schriftsteller Orhan Pamuk, 2005 erhielt er den Friedenspreis des deutschen Buchhandels, vom Vorwurf der "Beleidigung des Türkentums" wegen seiner Äußerungen zum Völkermord an den Armeniern freigesprochen. Ihnen erging es vor wenigen Tagen ebenso. Über sechzig Schriftsteller, Verleger, Menschenrechtsaktivisten und Journalisten waren bereits mit dem entsprechenden Paragraphen 301 konfrontiert. Der armenische Verleger Hrant Dink wurde zu sechs Monaten Haft auf Bewährung verurteilt.

Shafak: Sogar Übersetzer sind mit dem Paragraphen 301 schon in Konflikt gekommen. Dabei ist aber jeder Fall anders gelagert. Normalerweise enden die Verfahren - über kurz oder lang - mit Freispruch. Der Fall Dink ist die einzige Ausnahme von dieser Regel.

Eine Tatsache, die in westlichen Medien vergleichsweise wenig dargestellt wird.

Shafak: Manchmal ist die Weltöffentlichkeit gegenüber der Türkei sehr voreingenommen, und das ist alles andere als hilfreich. Mitunter suchen westliche Medien nach "Helden" und "Opfern". Aber wir sind weder Helden noch Opfer. So wichtig die internationale Unterstützung ist - wenn sie lediglich in Form von Tadel und Beschimpfungen gegen die Türkei daherkommt, dann bewirkt sie hierzulande nur Rückschläge. Die fortschrittlichen Kräfte des Westens sollten lieber mit den fortschrittlichen Kräften in der Türkei zusammenarbeiten, als die Türkei schwarzzumalen. Von oben herab zu reden hilft gar nichts.

Was macht eigentlich das Türkentum aus?

Shafak: Die Türkei ist ein sehr interessanter Fall. Noch vor hundert Jahren waren wir ein multiethnisches, vielsprachiges und multireligiöses Großreich. Dann kam der laizistische, moderne Nationalstaat, und der türkische Nationalismus wurde zu seinem Rückgrat. Das war eine heftige Erschütterung. Die Türkei ist ein zukunftsorientiertes Land. Das Gute daran ist, daß das Land sich rasch an neue Gegebenheiten anpassen kann. Unsere Gesellschaft ist sehr dynamisch. Das Schlechte daran ist, daß wir kein langes Gedächtnis haben. Unsere Gesellschaft ist geprägt von kollektiver Amnesie.

Abwegig ist die Idee staatlicher Pflege und des Schutzes der nationalen Identität für einen Nationalstaat allerdings nicht. Alles andere legte nahe, am Türkentum gäbe es nichts Schützenswertes.

Shafak: Der Punkt ist, daß es sich dabei um die Frage dreht, ob man den Status quo zu erhalten oder wandeln versucht. In den letzten zehn bis zwanzig Jahren ist die Zahl derjenigen, die das Regime kritisieren, verändern oder verbesseren wollen, enorm gewachsen. Die Zivilgesellschaft in der Türkei expandiert, und die traditionellen Eliten weichen einer vielgestaltigeren Gesellschaftsformation. Viele Menschen im Westen glauben, der Paragraph 301 sei ein Zeichen dafür, daß sich in der Türkei nichts verändert habe. Genau das Gegenteil ist der Fall! Der Paragraph 301 ist deshalb zur Waffe gegen kritische Geister geworden, weil sich die Dinge ändern. Je umfassender und tiefgreifender der gesellschaftliche Wandel ist, desto deutlicher wird das Unwohlsein derer, die den Status quo erhalten wollen, und desto verzweifelter ihr Versuch, die Zügel straff zu halten.

Tatsächlich ist der Paragraph das Ergebnis einer Reformgesetzgebung, die die Türkei näher an europäischen Standards heranführen sollte.

Shafak: Das Problem ist, daß der neue Paragraph so vage gehalten ist, daß er zum Mißbrauch einlädt. Inzwischen ist der Paragraph in den Händen der Nationalisten. Ich bedaure das, weil die Ultranationalisten den Paragraphen politisch einsetzen, um den EU-Beitrittsprozeß der Türkei zu stoppen. In der Türkei existiert eine tiefe Kluft: Auf der einen Seite stehen die, die der EU beitreten, das Land demokratisieren und eine offene Gesellschaft schaffen wollen. Auf der anderen Seite diejenigen, die die Türkei provinziell in Nationalismus und Fremdenfeindlichkeit befangen und eine "geschlossene" Gesellschaft erhalten wollen.

Ähnliche Paragraphen existieren auch in westeuropäischen Ländern mit sogenannten offenen Gesellschaften.

Shafak: Es stimmt, daß es ähnliche Gesetze auch in vielen europäischen Ländern gibt, aber sie werden auf andere Art angewandt als in der Türkei. Was wir in der Türkei verändern müssen, ist nicht nur die Gesetzgebung, sondern auch die Mentalität, mit der die Gesetze angewandt werden. Kurz gesagt: unsere politische Kultur.

Das französische Parlament hat die türkischen Armeniermassaker 2001 offiziell als Völkermord anerkannt.

Shafak: Ich bin skeptisch gegenüber der französischen Absicht, die Qualifizierung als "Genozid" von oben her durchzusetzen. Ich bin skeptisch gegenüber allen Staatsideologien, die die Freiheit der Meinungsäußerung einschränken, ganz gleich ob in der Türkei, in Frankreich oder in Deutschland - das macht keinen Unterschied. Wenn ich die türkische Regierung dafür kritisiere, daß sie Andersdenkende, die das Wort "Völkermord" aussprechen, vor Gericht stellt, dann kritisiere ich ebenso die französische Regierung, wenn sie Andersdenkende nicht toleriert und jene bestraft, die sagen: "Es gab keinen Völkermord". Denn ich glaube an die absolute Meinungsfreiheit überall auf der Welt. Regierungen sollen nicht und können nicht festschreiben, was historische Wahrheit ist. Jeder Einzelne sollte unbedingt die Freiheit haben, seine Gegenposition auszudrücken. Wenn der Staat seine Version der Geschichte und der Wahrheit zu verordnen beginnt, dann sehen wir einem gefährlichen Totalitarismus entgegen.

 

Elif Shafak - "der shooting star der neueren Literaturszene" (FAZ) - ist vor allem in den USA bekannt geworden. In Europa stieß die türkische Schriftstellerin jüngst aufgrund der Anklage gegen sie wegen "Beleidigung des Türkentums" auf Interesse. Nach dem Prozeß Anfang 2006 gegen den letztjährigen Friedenspreisträger des deutschen Buchhandels, Orhan Pamuk, ist Shafak die zweite international bekannte Persönlichkeit, die wegen ihrer Aussagen zum türkischen Völkermord an den Armeniern vor Gericht gestellt wurde. Ihr weltweit beachteter Prozeß in Istanbul endete am 21. September allerdings schon nach einem Tag mit einem Freispruch aus "Mangel an Beweisen". In ihrem Roman "Baba ve Piç" ("Der Bastard von Istanbul", ab Februar 2007 im Eichborn-Verlag) hatte sie das in der Türkei unter Strafe stehende Thema angesprochen. Shafak wurde 1971 in Straßburg geboren, wuchs in Frankreich, Spanien und der Türkei auf und studierte in Ankara Gesellschaftswissenschaften. Heute lebt sie in Istanbul und in den Vereinigten Staaten, wo sie an der Universität von Arizona lehrt. Auf deutsch sind bisher unter anderem ihre Romane "Spiegel der Stadt" (Literaturca, 2004) und "Die Heiligen des nahenden Irrsinns" (Eichborn, 2005) erschienen.

Foto: Ein Demonstrant trampelt am Tag des Prozesses auf ein Bild von Elif Shafak: "Waffe gegen kritische Geister"

 

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