© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 41/06 06. Oktober 2006

Friedrich Merz muß draußen bleiben
Integration I: Bundestagspräsident Norbert Lammert hat einen lückenhaften Sammelband zum Thema Leitkultur herausgegeben
Marcus Schmidt

Ohne Friedrich Merz hätte es der Begriff der Leitkultur vermutlich niemals in den Rang eines der in den vergangenen Jahren besonders kontrovers diskutierten Worte geschafft. Dem damaligen Vorsitzenden der Unionsfraktion im Bundestag gelang es im Oktober 2000, mit einem Zeitungsbeitrag den Begriff der "deutschen Leitkultur" zu popularisieren. Es entbrannte eine heftige Debatte, die mehr um das Wort selber kreiste als um seinen Inhalt, also die Frage, auf Grundlage welcher Werte die Integration der Zuwanderer in Deutschland erfolgen soll.

Um so verwunderlicher scheint auf den ersten Blick, daß man den Namen Merz vergeblich unter den 42 Autoren des Sammelbandes "Verfassung, Patriotismus, Leitkultur - Was unsere Gesellschaft zusammenhält" sucht. Blickt man auf den Herausgeber des Bandes, so verwundert es schon nicht mehr, daß Merz in der Liste fehlt. Denn auf keinen Geringereren als auf Bundestagspräsident Norbert Lammert geht die Idee für das Buch zurück. Er hat 60 Personen angeschrieben und zur Mitarbeit aufgefordert. Sie sollten ihm schreiben, was sie mit dem Begriff Leitkultur verbänden und auf welchen Grundlagen ihrer Meinung nach die Gesellschaft ruhe.

Leider ist nicht bekannt, welche Namen sich unter denjenigen befinden, die nicht geantwortet und nicht an dem Sammelband mitgewirkt haben. Friedrich Merz jedenfalls gehört nicht dazu. Er sei "ganz bewußt" nicht zur Mitarbeit aufgefordert worden, sagte Lammert vergangene Woche bei der Vorstellung des Buches in Berlin. Er habe den Eindruck vermeiden wollen, die von Merz einst ausgelöste Diskussion um eine deutsche Leitkultur solle wiederbelebt werden.

Außerdem, so möchte man hinzufügen "gehört" der Begriff längst nicht mehr dem ehemaligen Fraktionsvorsitzenden, sondern Lammert. Dieser sieht es seit seinem Amtsantritt als eine seiner wichtigsten Aufgaben an, den vieldiskutierten Begriff mit Inhalt zu füllen. Nicht zufällig reklamierte er im vergangenen Jahr mit einem Interview in der Zeit den seit der Auseinandersetzung um Merz' "deutsche Leitkultur" von vielen gemiedenen - weil "umstrittenen" - Begriff für sich, inklusive der Deutungshoheit. Dabei ist Lammert stets darauf bedacht, den Zusatz "deutsche" Leitkultur vergessen zu machen. Explizit deutsch, plädiert Lammert für eine Entnationalisierung, sei an der Leitkultur in Deutschland nur die Sprache, alles andere entstamme der westlichen Kultur. Merz hatte das noch etwas anders gesehen.

Für den Parlamentspräsidenten dient das Buch der "Selbstverständigung unserer Gesellschaft über die Grundlagen des Zusammenlebens". Das Überraschende an den rund 300 Seiten ist, daß es keine Überraschungen gibt. Das zeigt schon ein abermaliger Blick auf die Autorenliste. Unter den prominenten Autoren aus "Politik und Wirtschaft, Wissenschaft, Medien und Kultur" finden sich neben Bundeskanzlerin Angela Merkel und Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble all jene Politiker, die sich immer dann zu Wort melden, wenn es um die Integration von Ausländern in Deutschland geht, ohne daß sie etwas Substantielles zur Lösung des Problems beizutragen hätten. Kein Wunder also, daß mit Claudia Roth, Renate Künast und Fritz Kuhn fast die komplette erste Reihe der multikultiverliebten Grünen einen Beitrag geleistet haben. Ebenfalls stark vertreten sind prominente Einwanderer wie die SPD-Bundestagsabgeordnete Lale Akgün, die türkischstämmige Anwältin Seyran Ates und der Direktor des Zentrums für Türkeistudien, Faruk Sen.

Wirklich Originelles hat keiner von ihnen zu dem Thema beizutragen. Was fehlt, sind provokante Thesen. Das liegt zum einen daran, daß man gerne unter sich bleibt, aber auch an der politischen Marginalisierung der gemäßigten Rechten jenseits von CDU und CSU. Es hätte ja nicht gleich der NPD-Vorsitzende Udo Voigt sein müssen. Aber selbst ein immer noch als konservativ geltender CDU-Politiker wie Jörg Schönbohm durfte oder wollte keinen Beitrag leisten, der das spezifisch Deutsche an der Leitkultur in Deutschland einfordert.

Ein Beitrag zumindest fällt dann doch noch positiv auf. Es ist der Artikel des ehemaligen Verfassungsrichters Paul Kirchhof. Der "Professor aus Heidelberg" (Gerhard Schröder) entwirft einen streng juristischen Begriff der Leitkultur. Seine ansonsten kühlen rationalen Ausführungen kleidet er in ein anschauliches Bild. Er vergleicht die Verfassung mit einem Baum mit verzweigten Ästen, der nur durch den Humus gedeihen kann, in dem er wurzelt. Dieser Humus besteht nach Ansicht Kirchhofs in Deutschland unter anderem aus den Lehren des Christentums, den Erkenntnissen der Aufklärung, der deutschen Geschichte, der europäischen Integration und der "wachsenden Weltoffenheit des Staates". Diese Grundlagen gelte es zu erhalten. Die Verfassung selbst, ist Kirchhof überzeugt, "muß sich ständig im Staatsvolk erneuern".

Vergleicht man diese Plädoyer mit den Ausführungen Seyran Ates', so deutet sich ein Konflikt an. Für die türkischstämmige Rechtsanwältin sind die "Werte des Grundgesetzes" alles andere als unverhandelbar. Zwar schreibt sie zunächst, von diesen Werten dürfe keinen Millimeter abgerückt werden, fügt aber sogleich hinzu "es sei denn, sie sind nicht mehr zeitgemäß". Fast möchte man meinen, da will jemand dem Baum mit der Axt zu Leibe rücken.

Norbert Lammert (Hrsg.): Verfassung, Patriotismus, Leitkultur. Was unsere Gesellschaft zusammenhält, Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 2006, broschiert, 308 Seiten,
14,95 Euro

Foto: Einbürgerungsfeier mit Deutschlandfahne: Debatte über die Grundlagen des Zusammenlebens


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