© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 41/06 06. Oktober 2006

Hier tickt eine Zeitbombe
Finanzpolitik: Die verschwiegene Staatsverschuldung übersteigt die ausgewiesenen Lasten um ein Mehrfaches
Klaus Peter Krause

Die Lage der deutschen Staatsfinanzen ist noch weitaus schlimmer als die meisten Bürger ahnen. Denn der größte Teil der Staatsschuld wird versteckt; in keinem Haushalt, in keiner Bilanz der Öffentlichen Hand taucht er auf. In Bund, Ländern und Gemeinden weist der Staat nur aus, was er an Krediten aufgenommen hat, explizite Schulden genannt. Er verschweigt aber, welche Zahlungsverpflichtungen er darüber hinaus eingegangen ist und was er da alles schon aufgetürmt hat (implizite Schulden). Sie übersteigen die ausgewiesenen Staatsschulden um ein Vielfaches. Darauf macht jetzt auch die Stiftung Marktwirtschaft in Berlin wieder aufmerksam. Ihre im September erschienene Studie "Brandmelder der Zukunft - Die aktuelle Generationenbilanz" hat die tatsächlichen Verbindlichkeiten des deutschen Staates zusammengefaßt.

Zahlungsverpflichtungen von 7,144 Billionen Euro

Die Studie kommt für die ausgewiesenen und für die verschwiegenen Schulden zusammen auf ungeheure 7,144 Billionen Euro, errechnet in ihrer Generationenbilanz für das Jahr 2004. Sie nennt diese Gesamtverschuldung, etwas harmlos klingend, Nachhaltigkeitslücke. Zieht man die ausgewiesene Staatsschuld von (2004) 1,4 Billionen Euro ab, sind es 5,7 Billionen Euro, die der Staat als seine Zahlungsverpflichtungen nicht öffentlich macht, also viermal so viel. Bezogen auf die gesamte deutsche Wirtschaftsleistung, das Bruttoinlandsprodukt (BIP), das sich 2004 auf 2,207 Billionen Euro belief, beträgt die Gesamtverschuldung 324 Prozent des BIP, ist also über dreimal so hoch.

In dieser Bilanz geht man davon aus, daß alle heute lebenden und alle zukünftigen Generationen die heute bestehende Staatsschuld mit ihren sämtlichen "Nettosteuerzahlungen" abgelten müssen. Der Begriff Nettosteuerzahlung beschränkt sich aber nicht nur auf Steuern, sondern bezieht auch verpflichtende Sozialabgaben, Beiträge, Gebühren und ähnliches mit ein. Diese Zahlungen errechnen sich aus dem Barwert alles dessen, was die Generationen in ihrem jeweils restlichen Leben an den Staat abführen müssen, und - davon abgezogen - dem Barwert dessen, was sie vom Staat für ihr restliches Leben erhalten, zum Beispiel Bildung, öffentliche Güter, Transfers, Renten sowie Leistungen der Kranken- und Pflegeversicherung. Zwischen beiden Beträgen tut sich ein dickes Defizit auf. Beide driften immer mehr auseinander, die Lage hat sich weiter verschlimmert.

Woraus besteht die verschwiegene ("implizite") Staatsschuld? Sie ergibt sich aus den schwebenden Ansprüchen der Bürger an den Staat, die entstanden sind und entstehen, wenn es bei der gegenwärtigen Gesetzeslage bleibt. Sie resultieren aus den umlagefinanzierten, gesetzlich zwangsweisen und längst maroden Sozialversicherungen" (Renten-, Kranken- und Pflegeversicherung) sowie den Pensionszahlungen an die Beamten und andere öffentlich Bedienstete. Dabei sind die Zahlungsverpflichtungen aus der Rentenversicherung noch der dickste Brocken (134 Prozent des BIP). Er würde sich aber, wie es in der Studie heißt, auf 46 Prozent verringern, wenn die Rente erst mit 67 Jahren ausgezahlt und wenn man den Beitragssatz auf die gegenwärtige, noch nicht ausgeschöpfte Höchstgrenze von 22 Prozent des Arbeitsentgelts erhöhen würde. Dagegen werde sich die implizite Verschuldung in der Krankenversicherung auf 218 Prozent des BIP sogar verdreifachen und die in der Pflegeversicherung von 32 auf 64 Prozent verdoppeln. Insgesamt stiege die staatliche Gesamtverschuldung auf 423 Prozent des BIP. Wenn nicht alsbald etwas Nachhaltiges dagegen geschieht.

Die Generationenbilanz soll, wie es in der Studie heißt, als "fiskalischer Brandmelder" fungieren, der die Hauptbrandherde aufzeigt, um die Löschzüge gezielt dort einzusetzen. Die Botschaft des Brandmelders ist großer Alarm: Auf die künftigen Beitrags- und Steuerzahler kommen gewaltige Lasten zu, verursacht durch ausgabentreibende Effekte in den Sozialversicherungen, durch zu wenig offiziell Beschäftigte und durch den Bevölkerungsschwund. Gerade in der Kranken- und Pflegeversicherung ticke schon bei dem heutigen Leistungskatalog eine Zeitbombe.

Zur gesetzlichen Krankenversicherung liest man: "Allein durch Beitrags- und Steuererhöhungen ist die fiskalische Schieflage der deutschen Krankenkassen nicht in den Griff zu bekommen. Vielmehr bedarf es einer echten Strukturreform." Das fordern Ökonomen und andere Fachleute seit Jahren, sogar seit Jahrzehnten. Für das, was die Große Koalition stattdessen ins Werk setzen will und daran schon zu zerbrechen droht, ist sogar die Bezeichnung "Flickwerk" noch Schönfärberei. Die Studie selbst untertreibt ebenfalls: Die echte Strukturreform werde "um Längen verfehlt". Treffend muß man es eine Katastrophe nennen.

Verdrängte Probleme der Gegenwart und Vergangenheit

Und im Vorwort zur Studie heißt es: "Je eher Politik und Bürger der Realität ins Auge blicken und die notwendigen Reformen anpacken bzw. mittragen, umso leichter fällt das Umsteuern. Wenn eine solche Politik trotz eindeutiger wissenschaftlicher Erkenntnisse heute nicht 'vermittelbar' sein sollte, werden uns die unangenehmen Konsequenzen bald durch die kommenden Generationen 'vermittelt', denn die ungelösten und verdrängten Probleme der Gegenwart und Vergangenheit werden uns in Kürze einholen. Eine weitere Lastverschiebung in die Zukunft ist dann nicht mehr möglich."

Der Präsident des Bundes der deutschen Steuerzahler hat das Problem im Januar 2005 viel plastischer verdeutlicht: Würden die öffentlichen Haushalte vom Ende 2005 an keine neuen Schulden mehr aufnehmen und dazu verpflichtet, jeden Monat eine Milliarde Euro Schulden zu tilgen, würde es gut 122 Jahre dauern, bis der Staat schuldenfrei ist. Damit hat er aber nur die ausgewiesenen Schulden gemeint, noch nicht die verschwiegenen. Das Institut für Wirtschaft und Gesellschaft in Bonn hat im September 2005 sogar acht bis neun Billionen Euro allein an impliziter Staatsschuld vorgerechnet. Die mit ihr bestehenden Zahlungsverpflichtungen sind ungedeckt. Solche Beträge laufen auf einen Staatsbankrott hinaus, denn erfüllen wird der Staat diese Verpflichtungen nicht können.

Christian Hagist, Bernd Raffelhüschen, Olaf Weddige: Brandmelder der Zukunft - Die aktuelle Generationenbilanz, Stiftung Marktwirtschaft, Berlin 2006, 16 Seiten, 3 Euro. Im Internet unter www.stiftung-marktwirtschaft.de 

Foto: Rentner im Pflegeheim: Unbezahlbare Pensionsverpflichtungen und Ansprüche an Renten-, Kranken- und Pflegeversicherungen


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