© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 41/06 06. Oktober 2006

Paris liegt ihm näher als Ostpreußen
Zivilreligiöser Ehrenlegionär: Wolf Lepenies erhält den Friedenspreis des deutschen Buchhandels
Sven Kluckert

Ausgerechnet in diesem Jahr, in dessen Verlauf eine im öffentlichen Bewußtsein schon weitgehend marginalisierte Schar, die Vertriebenen, für innen- wie außenpolitische Aufgeregtheit sorgt, erhält einer der Ihren den Friedenspreis des deutschen Buchhandels. Denn der Berliner Soziologe Wolf Lepenies wurde im Januar 1941 im ostpreußischen Deuthen geboren. Vier Jahre später fand Lepenies, wie er in seinem neuen Buch ("Kultur und Politik") erzählt, mit Mutter und Schwester auf der Flucht vor der Roten Armee ein Quartier nahe Dresden. Dort erlebte er den Untergang der Stadt mit, während sein Vater als Nachtjäger vergeblich versuchte, das Elbflorenz vor der Royal Air Force zu schützen.

Von dieser östlichen Prägung ist in der intellektuellen Biographie des Preisträgers freilich kaum etwas auszumachen, so daß sich nur unter Verweis auf Geburtsort und nahezu vorbewußtes Vertreibungsschicksal ein dünner Faden zur Klientel Erika Steinbachs spinnen läßt. Bei Lepenies hat es sogar den Anschein, als habe er sich radikaler als andere seiner Alterskohorte, etwa Oskar Negt, 1934 nahe Königsberg geboren, vom Herkunftsmilieu gelöst. In Koblenz aufgewachsen, geriet er früh ins geistige Kraftfeld des französischen Nachbarn. Die Münsteraner Dissertation über "Melancholie und Gesellschaft" (1967) erkundet die durch Schwermut charakterisierte Seelenverfassung des europäischen Intellektuellen deshalb vornehmlich an Zeugnissen der literarischen Kultur Frankreichs.

Auf diesem Weg schritt er weiter. Mit seiner Untersuchung über den "Wandel kultureller Selbstverständlichkeiten in den Wissenschaften des 18. und 19. Jahrhunderts" ("Das Ende der Naturgeschichte", 1976), die Buffon, Lavoisier und Lamarck zu ihren Helden macht, mit der Studie über gesellschaftswissenschaftliche Traditionen in Frankreich und England im Vergleich mit Deutschland ("Die drei Kulturen", 1985) und schließlich mit dem Wälzer über einen homme de lettres und Großkritiker ("Sainte-Beuve. Auf der Schwelle zur Moderne", 1997) - niemand, unter den westdeutschen Intellektuellen, die scharenweise den "Weg nach Westen" antraten, hat sich zwischen dem "grand siècle" und dem "stupide siècle", zwischen dem Hof Ludwigs XIV. und den Salons Prousts, seine neue geistige Heimat wohnlicher eingerichtet als Lepenies. Die Berufung auf eine Pariser Gastprofessur am Collège de France, der Doktor honoris causa der Sorbonne und die Ernennung zum Ritter der Ehrenlegion wirken da wie Einbürgerungsakte.

Lepenies ist nicht in Paris stehengeblieben, gelangte als fahrender Scholar bis nach Princeton. Aber im Unterschied zum Gros seiner Generationsgenossen in der angelsächsisch penetrierten deutschen Akademikerlandschaft blieb für sein eigenes Werk Frankreichs Geisteswelt die Inspirationsquelle. Da der einstige Erbfeind ungeachtet aller Austauschprogramme, gerade als Folge angelsächsischer Dominanz, in unseren gebildeten Schichten seit langem fast wie ein exotisches Land wirkt, kann Lepenies sein Herrschaftswissen hier inzwischen souverän ausspielen. Er muß dabei nicht fürchten, daß man ihm etwa hundert Seiten Nacherzählung aus Sainte-Beuves "Port Royal" übelnimmt. Außer einigen Romanisten kennt das ohnehin kein deutscher Leser mehr, und die Sainte-Beuve locker Konkurrenz machende Monographie, die Max Krüger über den Jansenismus Port Royals 1936 vorlegte, dürfte allenfalls zu konservatorischen Zwecken noch aus dem Regal geholt werden.

Aber als deutsch-französischer Mittler erhält der soeben emeritierte Soziologe den Friedenspreis am 8. Oktober natürlich nicht. Auch nicht dafür, daß es ihm gelungen ist, sich als "öffentlicher Intellektueller" von, wie Die Welt jubelt, "internationaler Ausstrahlung" zu etablieren. Nein, der Börsenverein wollte einen Mann ehren, der als Rektor des Berliner Wissenschaftskollegs zwischen 1986 und 2001, als "handelnder Intellektueller" Völker und Kulturen "im friedlichen Gespräch" zusammengeführt und damit das Schreckbild des "Zusammenpralls der Kulturen" durch ein "Hoffnungsbild kultureller Lerngemeinschaften" ersetzt habe.

Was die friedensstiftende Wirkung des Wissenschaftskollegs angeht, das dieser Tage seinen 25. Gründungsjubiläum feiert, ist gewiß der Wunsch der Vater des Preisgedankens. Dort, wo Huntingtons Voraussage eines Kampfes der Kulturen blutige Realität geworden ist, in den nahöstlichen Wetterzonen zwischen "Moderne" und "Islam", reichte der kulturpolitische Einfluß des Kollegs unter Lepenies kaum hin. Noch in seinen letzten Amtsjahren angeschobene Arbeitskreise und die Vernetzung zwischen Fellows und Nachwuchswissenschaftlern zum Thema "Europa im Nahen Osten - Der Nahe Osten in Europa" oder "Moderne und Islam" ändern an dieser Einschätzung nichts. Wo er sich hingegen ein Einflußglacis eröffnete, in Osteuropa, wo er ab 1990 bei der "Erneuerung der Wissenschaftslandschaften" half und Ableger des Berliner Kollegs in Budapest, Bukarest und St. Petersburg gründete, bestand nie die Gefahr eines "Zusammenpralls der Kulturen".

Staatsgeschütztes Gesabber, würde Gottfried Benn sagen

Das eigentliche Thema des Wissenschafts- und Kulturpolitikers Lepenies ergab sich in den Jahren der Berliner Republik daher nicht aus Fährnissen und Risiken der Interkulturalität im Weltmaßstab. Sondern ihn trieb stets das Problem um, das Habermas bald nach "1968" auf die Formel "Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus" brachte. Der Spätkapitalismus erscheint bei Lepenies zwar als "Globalisierung". Doch die Sorge um die Legitimation von Herrschaft in "globalisierten", also Einwanderungsgesellschaften, hat sich damit für ihn nur verschärft. Seitdem sucht Ehrenlegionär Lepenies nach dem "sozialen Kitt", "Werten" und "Bindungskräften", nach der "Zivilreligion" transnationaler Gesellschaften. Hierfür will er den "Patriotismus" der üblicherweise nur "klagenden Klasse", der Intellektuellen, anstacheln.

Mehr als Versuche, wie jetzt wieder in "Kultur und Politik", dafür eine von Diderot bis zu Thomas Mann reichende Ahnengalerie an Vorbildern zu stiften, sind dabei nicht herausgekommen. Wie Lepenies selbstkritisch andeutet, hätte ihm der unbarmherzige Gottfried Benn das wohl als "staatsgeschütztes Gesabber" vorgehalten. Den Friedenspreis des deutschen Buchhandels faßt der Autor daher vielleicht als Ansporn zur Leistungssteigerung auf.

Wolf Lepenies: Kultur und Politik. Deutsche Geschichten. Hanser Verlag, München 2006, gebunden, 448 Seiten, 29,90 Euro

Foto: Wolf Lepenies: Den Kampf der Kulturen kann er nicht verhindern


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