© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 41/06 06. Oktober 2006

Die Sonne weiß um ihren Tod zu keiner Stunde
Was muß das für ein Winter gewesen sein: Ulrich Schachts neuer Lyrikband "Weißer Juli" bewahrt letzten Dingen ihr Geheimnis
Jürgen K. Hultenreich

Der Stoff der Poesie ist nur so begrenzt, wie das Leben, dem er entstammt, unerschöpflich ist. Das bedeutet, daß die Gestaltungskraft des Poeten nie zur Verfügungsgewalt über seinen Stoff werden kann insofern, als die Weigerung, ihn zu gestalten, den Stoff nicht zum Verschwinden bringt."

So beginnt Ulrich Schachts "Wiederentdeckung der Geschichte der Sonne" (untertitelt: "Versuch über die Poesie der Natur und ihr Erscheinen in der Natur Poesie"), die seinen neuesten Gedichtband "Weißer Juli" essayistisch abrundet, wir könnten auch sagen: distinguiert erläutert, komplementär deutet. Dichtung steigere das Gefühl für die Realität, schreibt Wallace Stevens, der nordamerikanische Lyriker der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, dem Gesehenes und Imaginiertes als ein und dasselbe galten.

"Die stilistische Konsequenz daraus", fügt Ulrich Schacht - die winzige Lücke für eine Ergänzung nutzend - hinzu, "ist nicht Pathos, wie gerne unterstellt, sondern präzises Pathos." Dieses "unterschlägt nicht das Leid in Leidenschaft, noch weniger übersieht es das Geschick im Mißgeschick". Und (immer noch spricht der Autor) "es zitiert in seinen Stoffen zwar damit den Riß zwischen dem Ich und dem Ganzen, erweitert ihn aber nicht in singuläre Dimension, gefällt sich also nicht in einer diesbezüglich totalen Verflachungslüge ..."

Ein durchdachtes Verhältnis ist kein ursprüngliches mehr

Freimütig bekennt Ulrich Schacht sich zur Naturpoesie, zur "Botschaft vom poetischen Idyll, die Zeit und Kunst seit längerem sich abzutreiben versuchen wie einen zu schön ( ... ) geratenen Fötus". Freilich ist ihm "das Idyll ohne gebrochenen Anteil nicht zu denken". Wie könnte es auch anders sein, wo ja schon um 1720 die beiden ersten sich einzig und allein auf die Natur konzentrierenden gravitätischen Herren - der hamburgische Statthalter Brockes, der Schweizer v. Haller - im trauten Gärtchen ihre umständlich gründlichen Lobpreisungen der Natur entwarfen, die es zu schützen galt. Damals mit dem Anspruch, daß Genuß, Nutzen und Naturerkenntnis gleichermaßen zu ihrem Recht kämen. Der Philosoph Shaftesbury trat für die Verwirklichung der unverfälschten Natur ein.

Inzwischen, heute, lauert das Grauen vor unserer Tür, bei einigen hockt es bereits in der Wohnung. (Ulrich Schacht spricht von "Comic strip-Hominiden virtueller Welten". Weitere Beispiele müssen hier nicht erwähnt werden.)

"Schon ein durchdachtes Verhältnis ist nicht mehr das ursprüngliche", notiert Ernst Jünger in seinem "Rivarol". Gerade aber deshalb, so Schacht, gehöre zum Idyll "ein Frieden, den seine Teile nicht hergeben"; dem Idyll, und er formuliert apodiktisch, sei "zu trauen", dokumentiere "es doch die untrennbare Verbindung von Harmonie und Notwendigkeit. Nicht der logische Zerfall ist hier wesentlich, sondern der Zerfall ins Logische. Das unvermeidliche amorphe Ende auch des Idylls ist ( ... ) immer zugleich sein zwingender Beginn. ( ... ) Von diesem Grund, der alles erzeugt wie bewahrt, zeugt - in demütig ertragenem Widerspruch zu sich selbst - kein anderer Text glaubwürdiger denn das Natur-Gedicht."

Allerdings möge keiner glauben, solch ein Gedicht entziehe sich, vielleicht der Schönheit wegen, handfestem, nüchternem, prosaischem Bereich. Gerade weil es seine Substanzzufuhr von dort her erfährt, wird es Dichtung. Das Prosaische (gemeint ist selbstverständlich keine Definition) im Naturgedicht gibt sich merkwürdigerweise dort am kräftigsten zu erkennen, wo das Poetische - die alles durchdringende Um-Deutung, das Herausschlagen des Immerwährenden aus den Verkrustungen des Jetzt - fulminant aufleuchtet.

Absurd bleibt es doch, unsere Sprache, die nicht zu teilen ist, in zwei Ausdrucksmöglichkeiten untergliedern zu wollen. Beider Begehr, sowohl der prosaische als auch poetische, verweilt ineinander. Ulrich Schachts Gedichte sind bestes Beispiel dafür.

Was hat angesichts dieses innersten Gesetzes der Dichtung der (von vielen trotz Reimlexika mit Mühe ausgeschwitzte) Reim eigentlich noch Großartiges zu bieten? Der Kenner nimmt ihn lächelnd zur Kenntnis, Ungereimtheiten lassen ihn längst nicht mehr hochfahren - es sei denn bei der Zeitungslektüre.

Schachts Gedichte liest man nicht, man sinnt ihnen nach

"Weißer Juli" ist ein JahreszeitenBuch, aufgeteilt in vier Abschnitte mit jeweils neun Gedichten, so daß auf jeden Monat drei entfallen. Die Jahreszeiten werden vorspruchartig eingeleitet mit japanischen Haiku von großen Meistern wie Issa und Gochiku, auch dies ein Hinweis auf radikal komprimierten Inhalt.

Gleich unseren Vorfahren läßt Ulrich Schacht das Jahr NACH EINEM WINTER beginnen. Was muß das für ein Winter gewesen sein in Schweden (wo der Fünfundfünfziger seit 1998 als freier Autor ländlich lebt), der ihm solch ein Gedicht, einen solchen Auftakt abforderte, um standzuhalten! "Langsam läßt der/ Himmel sein Licht/ erscheinen: dem/ Stein schmilzt die/ gespeicherte Kälte/ davon den Flüssen gewaltige Starre in/ Bäumen und Sträuchern/ das Schweigen. Nun/ atmen die Menschen/ wieder mit Augen und/ Ohren nehmen sie wahr/ die kleine Lehre von/ der Sinnlosigkeit des/ Vergessens an einem/ Tag aus endloser/ Starre und Stille für// immer"

Schachts Gedichte liest man nicht, man sinnt ihnen nach, streift über sie langsam hin wie von oben gesehen und verfängt sich, wenn das Gleiten gelingt, in anziehenden Worten, gelegentlich auch Interpunktionssetzungen oder gar Sentenzen mit neuem, ungeahntem Ausblick ins Weite: "... Erst in den Farben des Greises/ wird das Gewußte bewußt." Oder: "... Geräusche am Fenster die/ Augen versinken das ironische/ Spiel ist. Aus" Oder: Was dich zerschlägt, das hast du nie gespürt"

Oder, zur Gänze zitiert, in WEISS IST DIE WELT. SCHNEE: "weites Feld zum Horizont den schwarzen Vögeln Grund, zu tanzen die Figur der/ Not. Die Sonne weiß um ihren// Tod zu keiner Stunde: Wenn sie erlischt am/ Horizont der Zeit, ist alles weit und still und/ nirgends Licht. Ein weißer Raum aus schwarzem/ Schaum den nichts durchbricht. Nichts. Nichts"

Oder, nochmals gänzlich - zu schön, um es zu stückeln -, in der "Skizze zu einem romantischen Gemälde", dem kürzesten Gedicht, das den Jahreskreislauf beendet: "Im Winter die Bilder von Winter/ Bildern das Weiße im Auge/ Gottes, und wenn daraus Schnee// fällt, was könnten wir// glauben"

Hier bewahren letzte Dinge ihr Geheimnis, unentwirrbar die Verknüpfung von Nichtsein und Sein. Es ist große, lebenskräftige Lyrik - in einem kleinen, lebendigen, wichtigen Verlag, der seit 25 Jahren nicht die Flut jährlicher Buchproduktion zu vergrößern, sondern Schönes und Wichtiges weiterzutragen versucht.

 

Jürgen K. Hultenreich, 1948 in Erfurt geboren, arbeitete als Musiker, Bibliothekar und Lyrikrezensent, bevor er 1985 aus der DDR ausgewiesen wurde. Seitdem lebt er als freier Schriftsteller im Westteil Berlins. Zuletzt erschien 2005 von ihm das Buch "Westausgang - 64 Stories" im Verlag Vorwerk, Berlin.

Ulrich Schacht: Weißer Juli. Edition Toni Pongratz, Hauzenberg 2006, brosch., 58 Seiten, 500 num. u. sign. Exemplare, 12 Euro

Foto: Eisige Idylle: Das Prosaische im Naturgedicht gibt sich dort am kräftigsten zu erkennen, wo das Poetische fulminant aufleuchtet (aa)


Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen