© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 41/06 06. Oktober 2006

Frisch gepresst

Gruppenkulturen. Wie bekommen Griechinnen Kinder? Und wie lassen sich Türken bestatten? Welche schichtenspezifischen Fankulturen lassen sich aufzeigen, und was unterscheidet die akademischen Bräuche bei uns von jenen in Paris, Aberdeen und New York? Die Kenntnis des Familien-, Freizeit- und Ritualverhaltens von "Gruppenkulturen" ist politisch von wachsender Bedeutung, besonders wenn man im multikulturellen Streichelzoo nirgends anecken will. Das vom sachsen-alhaltinischen SPD-Politiker und Landtagsvizepräsidenten Rüdiger Fikentscher herausgegebene Bändchen bereitet Beobachtungen aus den europäischen Alltagskulturen in kulturwissenschaftlich solider Weise auf. Der exemplarische Charakter der Arbeiten spiegelt das ebenso wie der Mut zur exemplarischen Bebilderung, die für kulturtheoretische Arbeiten üblich ist (Gruppenkulturen in Europa. Familien, Freizeit, Rituale. Mitteldeutscher Verlag, broschiert, 160 Seiten, 14 Euro).

 

Täterkinder. Margit Reiter lebt und arbeitet als Zeithistorikerin in Wien. Dort besetzt sie, wenig erstaunlich, die "Forschungsschwerpunkte" Österreich-Israel, natürlich die unheilvolle Trias "Antisemitismus-Antizionismus-Antiamerikanismus" sowie "NS-Nachgeschichte". Den Anfechtungen in den eigenen Reihen ist sie in einer Monographie "Unter Antisemitismus-Verdacht" nachgegangen, die "Die österreichische Linke und Israel nach der Shoah" thematisiert. Ihr jüngstes Werk bleibt in diesem vertrauten Umfeld und beschäftigt sich mit dem "Nationalsozialsmus im Familiengedächtnis" (Die Generation danach. Studien-Verlag, Innsbruck 2006, 331 Seiten, gebunden, 29,90 Euro). Vornehmlich werden "Vaterbilder" und "Mutterbilder" im Wege der "oral history" ermittelt. Im Ergebnis ist die Autorin erst mit der Enkelgeneration zufrieden, wo sich viel "antifaschistisches Engagement" im "kritischen Umgang mit den familiären Verstrickungen" zeige.

 

Geheimdienste vor 1914. Jenseits aller weitgehend widerlegten Denkschablonen und Vermutungen aus Fritz Fischers Mottenkiste widmet sich der Historiker Jürgen W. Schmidt einem weitaus ergiebigeren Feld, um Hinweise auf das Entstehen des politischen Klimas zu erhalten, das in die Katastrophe von 1914 führte. Dazu analysierte er die Arbeit des militärischen Nachrichtendienstes des preußischen Großen Generalstabes (Sektion IIIb) seit Ende des 19. Jahrhunderts bis 1914. Obwohl der Titel des auf seiner Dissertation fußenden Buches etwas anderes andeutet, befaßt sich Schmidt fast ausschließlich mit der Spionageabwehr gegen das mit Frankreich verbündete Zarenreich. Die Provinzen Ost- und Westpreußen und Posen, die eine schwer überwachbare Grenze hatten, waren dabei das von Schmidt detailliert und kundig nachgezeichnete Haupteinsatzgebiet dieses einzigen Geheimdienstes im Kaiserreich (Gegen Rußland und Frankreich. Der deutsche militärische Geheimdienst 1890-1914. Ludwigsfelder Verlagshaus, Ludwigsfelde 2006, broschiert, 687 Seiten, 35 Euro).


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