© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 43/06 20. Oktober 2006

Schlachtfeld Krankenhaus
Sterbehilfe aus Selbstmitleid: Oft fühlen sich Pflegepersonal und Angehörige überfordert
Thorsten Hinz

Vor drei Wochen ist in Berlin eine Krankenschwester verhaftet worden, die zehn Jahre lang auf der Intensivstation der Charité gearbeitet hatte. Sie soll mindestens zwei austherapierte Herzpatienten durch die Überdosierung von Medikamenten getötet haben, aus Mitleid, behauptet sie. Ermittelt wird nun wegen Mordverdachts, auch wird untersucht, ob sie für weitere Todesfälle verantwortlich ist.

Zur selben Zeit wurde eine Altenpflegerin aus Bonn, die neun alte Heim-insassen mit Kissen, Handtüchern und Waschlappen erstickt hatte, letztin-stanzlich zu lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilt. In Bayern erwartet ein Krankenpfleger, der 29 Patienten zu Tode gespritzt hat, sein Urteil. Das Zu-Tode-Bringen von Patienten ist kein Einzelfall, und eine hohe Dunkelziffer ist wahrscheinlich. Denn die Tötungen, so unterschiedlich die Motive sein mögen, wurden nur durch Zufall statt durch systemimmanente Kontrollen entdeckt. Das Sterben findet in einer faktischen, rechtlichen und moralischen Grauzone statt.

In der öffentlichen Diskussion klingt viel Verständnis für die Charité-Krankenschwester an, manche sehen in ihr sogar eine mutige Rebellin gegen eine unmenschliche Praxis. Krankenschwestern hätten oft einen anderen Blick auf die Behandlung Schwerstkranker als Ärzte und würden die Intensivmedizin als Gewaltakte erleben, sagte auch die Leiterin eines Berliner Sterbehospizes, fügte aber hinzu, daß Äußerungen wie: "Die wäre doch sowieso gestorben!", fatal seien. Selbst wenn Menschen nur noch zwei Wochen zu leben hätten, stünden ihnen diese auch zu. Ihr Hospiz sei dazu da, Schwerstkranken durch palliative Medizin die Schmerzen und Furcht zu nehmen und ihnen zu ermöglichen, ihr Leben so lange wie möglich zu genießen.

Aktive Sterbehilfe für moribunde Menschen wirft, selbst wenn sie auf Verlangen erfolgt, schwierige ethische Fragen auf. Noch komplizierter wird das Problem angesichts von Forschungsergebnissen der Universität Witten/Herdecke, wonach Pflegekräfte weniger aus Mitleid, vielmehr aus Selbstmitleid töten. Das Kranken- und Pflegepersonal fühle sich von der ständigen Konfrontation mit siechen Patienten überfordert.

Damit erhebt sich die Frage nach der Grenze, bis zu der die Sterbehilfe tatsächlich auf eigenes Verlangen erfolgt bzw. ab der die Schwerkranken (oder einfach nur Pflegebedürftigen), wenn sie den Todeswunsch äußern, einem gefühlten Druck nachgeben, um dem Personal, der Pflegeeinrichtung und dem Sozialsystem nicht länger zur Last zu fallen. Und wo ist die Grenze zwischen der aus Barmherzigkeit verabreichten Injektion, die ein sanftes Hinüberdämmern ermöglicht, und der selbstherrlich gesetzten Todesspritze?

Wenn diese aber stillschweigend geduldet wird, taucht irgendwann gewiß die Frage auf, ob das Ersticken nicht kostengünstiger sei. Wer weiß, ob nicht auch kriminelle oder pathologische Motive bei den Tötungen eine Rolle spielen? Umgekehrt kann der gewaltsam am Leben gehaltene Körper als Einnahmequelle mißbraucht werden, jedenfalls solange die Kassenlage das hergibt.

Je älter und hinfälliger ein Patient ist, desto weniger sorgt sein unnatürliches Ableben für Aufsehen. Was soll der Gesetzgeber also tun? Würde er ein umfassendes Kontrollsystem installieren, wäre das ein indirektes Eingeständnis, daß ein prinzipielles Mißtrauen gegenüber Krankenhäusern und Pflegeheimen angebracht ist und die ethischen Grundlagen, auf die sich Staat, Gesellschaft, Gesundheits- und Pflegedienste berufen, nur Fiktionen sind. Damit würden sich die genannten Systeme selber in Frage stellen. Außerdem könnten verschärfte Kontrollen und die Exekution der Gesetzeslage eben auch dazu führen, das Leiden von Sterbewilligen so qualvoll wie sinnlos zu verlängern. Längst nicht in allen Fällen führt die Palliativmedizin zur Schmerzlinderung. Doch beim Beschweigen der Grauzone, in der heute vielfach gestorben wird, kann es auch nicht bleiben. Ein neues Kontrollsystem müßte mit neuen, klar definierten Regeln für ein selbstbestimmtes Sterben von Schwerkranken verbunden werden. Der bereits eingetretene Vertrauensverlust könnte damit wieder kompensiert werden.

Immer öfter fällt das Korrektiv der sozialen Kontrolle durch Familienangehörige aus. Das Abschieben alter Menschen in Kranken- und Pflegestationen hat seine Ursache nicht nur in einer von Spaßbedürfnis und Verantwortungsscheu geprägten Lebensplanung der Jüngeren oder in der kollektiven Vedrängung von Tod und Krankheit. Aufgrund der immer höheren Lebenserwartung gibt es nun mal Formen von Krankheit und Siechtum, mit denen Angehörige objektiv überfordert sind. Außerdem erfordert die Sicherung der eigenen sozialen Existenz heute eine örtliche und zeitliche Flexibilität, die die Betreuung alter oder schwerstkranker Angehöriger zusätzlich erschwert.

In Zukunft werden immer öfter Menschen von Altersschwäche und Krankheit betroffen sein, die auf Familiengründungen ganz verzichtet haben. Durch die Verschiebung der Altersstruktur wird sich der Problemdruck zusätzlich verstärken. Bisher wird der Generationenkonflikt nur rhetorisch abgehandelt. Bald aber könnte der Kampf um die knapper werdenden Ressourcen zwischen den zahlreichen Alten und den wenigen, erschöpften, frustrierten Jungen akut werden.

Diese Gefahr wird bisher mit "Kommt Zeit, kommt Rat"-Gesäusel abgetan. Not kennt bekanntlich kein Gebot, und so besteht die Möglichkeit, daß Krankenhäuser und Heime künftig zu biopolitischen Schlachtfeldern werden. Das alternde Deutschland kann es sich nicht leisten, vor dieser barbarischen Aussicht länger die Augen zu verschließen. Klare Definitionen zur Sterbehilfe könnten die Gefahr zumindest eindämmen.


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