© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 43/06 20. Oktober 2006

Depeschen aus dem Irgendwo
Talentschmiede oder Textfabrik: Die Universität Hildesheim bildet künftige Schriftsteller aus
Silke Lührmann

Der Pfarrer möchte seine Predigten stilistisch aufpolieren, die Hausfrau eine Familienchronik schreiben. Dem Psychiatrie-Patienten wurde die Teilnahme als Therapie empfohlen. Die Computerfachfrau und Verfasserin von Handbüchern sitzt nur hier, weil Blumenbinden schon voll war. Der pensionierte Beamte findet keinen Verleger für seine Historienschinken, weil er nicht mehr jung und fotogen ist, glaubt er. Neben ihm sitzt die Bankangestellte mit mehreren Romanmanuskripten in der Nachttischschublade. Schließlich die Rezensentin, die sich seinerzeit für ein arg verkanntes Genie hielt und die Kursgebühr dank eines wohlwollenden Sachbearbeiters als Fortbildungsmaßnahme vom Sozialamt bezahlt bekam: So ließ sich im Herbst 1993 der Abendschulkurs "Creative writing" in einer südenglischen Kleinststadt an.

Was damals außerhalb der USA ein netter Nebenverdienst für mäßig erfolgreiche Literaten und ein ebenso nettes Freizeitangebot für Möchtegerns war, hat sich längst im gesamten angelsächsischen Kulturkreis als Magisterstudiengang etabliert. Talentschmieden, sagen die einen beifällig, Textfabriken abfällig die anderen: Wahre Schriftsteller seien immer schon beim Leben in die Lehre gegangen. (Das Ideal einer Werkstatt, in der Meister und Schüler gemeinsam das Rohmaterial behauen, schleifen, verlöten, einschmelzen oder in seiner künstlerischen Vollendung zelebrieren, läge freilich dazwischen.)

Mag sein, aber die Herausforderungen der Zukunft erfordern heute selbst in dieser konjunkturresistenten Branche Synergien, um Produktionsabläufe zu optimieren, Innovationspotential freizusetzen, Humanressourcen zu erschließen und ihnen die fatalen Lücken im Lebenslauf zu ersparen. Der obligatorische Werdegang amerikanischer Marktneuheiten etwa lautet längst nicht mehr "... schlug sich als Cowgirl, Schiffsköchin, Putzfrau und Totengräberin durch, bevor ihr sechster Roman über Nacht zum Kultbuch wurde". Heute liest sich der Klappentext eher so: "Nach dem Studium am renommierten Writers' Workshop der University of Iowa zog So-und-so nach New York. Diese Novelle entstand mit einem Stipendium der Guggenheim-Stiftung." Die Professur oder auch Anstellung als "Writer-in-residence" - in Haftvollzugsanstalten, Klöstern oder Künstlerhäusern - läßt zumeist nicht lange auf sich warten.

Anders gesagt: Was ist so falsch daran, den literarischen Nachwuchs mit Vitamin B zu mästen und vorhandene Begabungen systematisch zu fördern, wie es bei Malern und Musikern gang und gäbe ist? Steuergelder werden schließlich - nicht zuletzt im universitären Bereich - für weit dubiosere Zwecke verwendet.

Einen gewichtigeren Einwand erhebt der Schriftsteller Hanns-Josef Ortheil, Mitbegründer des 1999 eingerichteten Elitenförderprogramms "Kreatives Schreiben und Kulturjournalismus" an der Universität Hildesheim. An britischen und US-Institutionen werde eine bestimmte Tradition gelehrt, die er als "dramaturgisches Schreiben" bezeichnet. Handlungs- und "charakter"-betont, begreift sie literarisches Schaffen eher als Dienstleistung für einen Endverbraucher, den Leser, statt als Arbeit an der Sprache. Erfahrungsgemäß komme diese Erzähltechnik den Neigungen vieler Jungschriftsteller durchaus entgegen, aber eben nicht aller. Seine Schreibschule will auch jenen anderen helfen, "den eigenen Ton zu finden", deren Sorgfalt den Worten selbst gilt.

Gespannt also schlägt man die Frucht seines Konzepts auf, die Jahresanthologie "Landpartie 06", um in Ortheils Vorwort zu erfahren: "Zu den internen Vereinbarungen des Studiengangs aber gehört es, daß die Lehrenden zu diesen frei, ohne Vorgaben und sonstige Anhaltspunkte entstandenen Texten weitgehend schweigen, daß sie nicht in sie eingreifen und auch keine sonstigen Vorschläge zu ihrer Korrektur machen."

Was immer der Sinn dieser Absprache sein mag - "sie können sich in ihnen austoben oder sich bis zur Unkenntlichkeit verstecken"-, als Lehrender würde man doch ein Befremden, ein Entsetzen gar äußern wollen, das sich beim Lesen einstellt: Wo bleibt hier die jouissance, die pure Freude am Schreiben oder auch nur am Leben? Wenn nicht am "Erzählen", muß ja nicht, so doch an den scharfen, kühlen Schatten, die Worte werfen gegen das gleißend nicht zu Sagende?

Die Anthologie verirrt sich selten ins Konkrete

Diese Depeschen aus dem Hier und Jetzt, das vor allem ein Nirgendwo und Irgendwann ist, handeln davon, wie es so ist mit Mitte Zwanzig. Ihre Sandras und Katharinas, Roberts und Sylvies trinken Alkohol, ohne viel Genuß daran zu finden. Hinterher müssen sie pissen oder sich übergeben. Sie schlafen miteinander, wenn sich die Gelegenheit ergibt. Manchmal lassen sie es auch bleiben. Sie gründen Agenturen, erhalten Aufträge und gehen zum Networking auf After-Work-Parties.

Sie reisen in ein namenloses Schwellenland, um die Faszination menschlichen Elends zu dokumentieren. (Daß die Währung Rand und die Landessprache Englisch ist, zählt zu den wenigen Verirrungen ins Konkrete, die sich dieser Band erlaubt.) Mehr des Nervenkitzels wegen, denn um zu erfahren, was es heißt, Mensch zu sein, sehnen sie sich nach Abgründen: danach, daß ihre Augen Fremden "von einsamen dunklen Waldwegen und zerrissenen Unterhöschen voller Blut" erzählen; danach, "vom echten Stoff zu kosten, einen Menschen umzubringen, ihn nicht nur mit Word 97 zu zerstückeln".

Doch bleibt ihre Gegenwart ganz Oberfläche, und das vage Unheil, das die Illustrationen verheißen - Jagdszenen in Sepia, deren Stille einen Anflug von Grauen erregt -, löst einzig die allererste der 36 Geschichten ein, "Faule Erde" von Sabrina Janesch: "Großvater sagt, sie haben den Teufel aufgefressen. Kniehoch ist das Biest gewesen und schwarz wie die Nacht. ... Das letzte erwähnenswerte Werk des Teufels, sagt Großvater, war der Winter des Jahres 1946."

Dargeboten wird dies alles in einer gefälligen, leserfreundlichen Sprache ohne Widerhaken - postmodern oder gar schwierig möchte man sich keinesfalls geben als angehender Kulturjournalist. Einzelne Ausflüge in den Cyberspace sprengen den Horizont, ohne ihn wesentlich zu erweitern.

Eltern treten kaum je in Erscheinung, eigene Kinder allenfalls im Moment des Abschieds: "Es ist besser, wenn ich gehe, denke ich, ..., der eingeschnürte Hals, das Atmen, das Schlucken, ich denke, daß es besser ist, wenn ich gehe, weil ich sie liebe, meine zwei Mädchen, weil ich sie liebe." Daß diese Welt in Ordnung sei, würde man nicht behaupten wollen, doch ist sie nicht so sehr in Unordnung geraten, daß es sich lohnte, viele Wort darüber zu verlieren. Nichts scheint unmöglich, warum denn auch. Dann, so gehört es sich in der Fiktion, muß aber alles möglich sein.

Über die berufliche Zukunft seiner Zauberlehrlinge gibt sich Ortheil indes keinerlei Illusionen hin: "Seit der neue Studiengang eingerichtet wurde, sind die Anfragen von außen nach Studienabsolventen mit jahrelanger, geschulter Schreibpraxis jedenfalls stark gestiegen. Banken suchen Redenverfasser für ihre Vorstandsmitglieder, Presse-Abteilungen von Verlagen suchen sprachgewandte Mitarbeiter für Werbung und Layout, theologische Akademien wünschen sich Predigt-Kurse für ihre wortarmen Seminaristen" - allzuviel hat sich womöglich doch nicht geändert seit dem Herbst 1993.

Landpartie 06. Jahresanthologie. Glück und Schiller Verlag, Hildesheim 2006, 217 Seiten, 9,90 Euro.

Hanns-Josef Ortheil Das Werk des 1951 in Köln geborenen Schriftstellers ist vielfach prämiert, zuletzt erhielt Hanns-Josef Ortheil Anfang dieses Jahres den mit 13.000 Euro dotierten Koblenzer Literaturpreis. Zur Begründung hieß es, Ortheil setze anspruchsvolle Literatur unterhaltsam um. Seit 1979 veröffentlicht der promovierte Literaturwissenschaftler unter anderem Romane, Erzählungen, Essays, zuletzt ist von ihm der Roman "Die geheimen Stunden der Nacht" (Luchterhand) erschienen. Von 1976 bis 1988 lehrte Ortheil Neuere deutsche Literatur und Poetik am Deutschen Institut der Universität Mainz.


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