© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 43/06 20. Oktober 2006

Ernst und Spiel, Wahrheit und Lüge
Einer zerfallenden Welt auf verlorenem Posten standhalten: Zum 75. Todestag des Wiener Schriftstellers Arthur Schnitzler
Wolfgang Saur

Vor 75 Jahren, am 21. Oktober 1931, starb Arthur Schnitzler in seiner Heimatstadt Wien. Der große Dichter, Dramatiker und Erzähler verkörpert bürgerliche Weltliteratur um 1900. Als Kopf der Wiener Moderne mag er uns ein "deutscher Tschechow" sein.

Bittere Skeptiker und scharfsinnige Analytiker führen beide den Individualismus bis in die entfaltete Moderne hinein und deuten das Schicksal des bürgerlichen Subjekts im Angesicht des neuen Jahrhunderts. Illusionslos konstatieren sie dabei Welt-, Wert- und Bewußtseinszerfall, Entfremdung und Einsamkeit. Ferngerückt beiden: Herkunft und Tradition, auch Politik; nicht mehr erreichbar: das Absolute.

Als Ärzte halten Tschechow und Schnitzler von persönlicher Zuwendung viel, doch wenig von politischer Reform und dem Anspruch der Religion. All dies steht hinter der Schwermut ihrer Figuren und der abgründigen Trauer ihrer Texte. So wird der Liberalismus introvertiert, Subjektivität und Welt gehen entzwei. Das macht Tschechow und Schnitzler zu Pessimisten, die einer zerfallenden Welt standhalten, ohne über sie hinauszuweisen.

Schnitzlers fruchtbarste Zeit fällt in die Belle Époque von 1890 bis 1914, trifft sich mit den Autoren des "Jungen Wien": Peter Altenberg, Alfred Polgar, Hermann Bahr, Richard Beer-Hofmann, Leopold von Andrian, Felix Salten. Daneben erreichen Hugo von Hofmannsthal, Stefan Zweig und eben Schnitzler Jahrhundertformat. Wien seit den 1880ern: eine für Künstler ideale Welt, die sagenhafte Kreativität und Verdichtung ästhetischer Kräfte provoziert - einen "Impressionismus in Kunst und Leben".

Politikferne und persönliche Freiheit bringen Kunst, Erotik und eine raffinierte Geschmackskultur zur Entfaltung. Wiener Spektakelfreude und Theatermanie trällern dazu. Als impressionistisches Grundmotiv nennt Schnitzler das "Ineinanderfließen von Ernst und Spiel, Leben und Komödie, Wahrheit und Lüge". Ambivalent genug, mag das der Musik, der Kunst und schönen Frauen gelten, aber auch in Ehedramen, nervlicher Zerrüttung und hypnotischer Abhängigkeit enden.

Arthur Schnitzler, 1862 als Sohn eines jüdischen Arztes geboren, wuchs in großbürgerlicher Umgebung auf, studierte Medizin und wurde 1885 zum Dr. med. promoviert. Seither im Spi-talsdienst, assistierte er von 1888 bis 1893 seinem Vater an der Wiener Poliklinik, um nach dessen Tod privat zu praktizieren, dann aber ganz zur Literatur überzugehen.

Mit der kontaktierte er 1890, als sich "Jung Wien" etabliert. Nach seinem literarischen (1888) und theatralischen (1891) Debüt erscheint 1892 der "Anatol", ein Zyklus subtiler Einakter mit dem Flair von Eleganz, Leichtsinn und Melancholie. Der neue Dramentyp zeigt sich als intelligentes Konversationsstück: Szenische Episoden bieten statt Handlung psychologische Vertie-fung und Nuancenreichtum, statt Ereignissen "Stimmung"; die Erosion von Einheiten schafft - inhaltlich und formal - eine Kunst des Punktuellen. Zeitkontinuum und Erfahrung entstrukturieren sich zu Erlebnisfragmenten, "Sensationen". Die lassen sich studieren wie kostbare Gegenstände. Es gilt, den Augenblick auszukosten - zumal als erotische Erfüllung.

Die erlebt der Bonvivant Anatol entweder mit der komplizierten "Mondänen" oder dem "süßen Mädel". Beide Typen erscheinen wieder im naturalistischen Drama "Liebelei" (1895), das Schnitzler erfolgreich macht. Liebelei wird zum Synonym eines substanzlosen Lebens, das sich an Oberflächenreize hält, sich amüsieren will, die Leere zu kaschieren - mithin des "Tragischen" entbehrt. So gehen die Offiziere Theodor und Fritz ihren Liebschaften nach.

Fritz, der aufreibenden Affäre mit einer verheirateten Frau entronnen, sucht harmlosen Zeitvertreib mit dem Vorstadtmädel Christine. Sein unverbindliches Spiel freilich ist ihre große Liebe. Als ihn überraschend die bürgerlichen Verhältnisse einholen - in Person des einst düpierten Ehemanns -, stirbt er im Duell. Christine erfährt das und tötet sich nun selbst. Ein gleichgültig erotisches Spiel schlägt um in tragische Vernichtung.

Seit 500 Jahren setzt die Kunst auf "Wirklichkeit"

Radikal äußert sich die Skepsis an Wirklichkeit, Ich, Sprache im "Grünen Kakadu" (1899), dem Spiel um Sein und Schein. Im Schauspiel zum Abend des 14. Juli 1789 - mit Adel und Revolutionären - verschwimmen die Ebenen, Grenzen verwischen, Figuren, Ereignisse heben sich auf.

Führt das Rokokomotiv im "Kakadu" zur ironischen Arabeske, so im "Leutnant Gustl" (1900) zur experimentellen Prosa. Hier verfaßt Schnitzler erstmalig einen "inneren Monolog". 1924 folgt "Fräulein Else" nach, bevor Alfred Döblin und James Joyce die neue Technik episch ausweiten. "Leutnant Gustl" verzeichnet minutiös den Bewußtseinsstrom eines jungen Offiziers binnen weniger Stunden: eine Folge abgerissener Gedanken, zufälliger Gefühle, spontaner Impulse, strömender Reize. Inhaltlich spielt Militärisches (Ehrbegriffe, Duellsachen) eine Rolle.

Allein diese Motive lösen eine wilde Kampagne aus, führen 1901 gar zur Degradierung Schnitzlers als Reserveoffizier. Mit umgekehrter Wertung verherrlicht heutige Germanistik die Erzählung als Politsatire. Beidem entgegen artikuliert der Text jedoch die autistische Reflexion eines haltlosen Subjekts. Weder vermag es sich sachlich zu fassen noch sein Bewußtsein zu kontrollieren. Einer dezentrierten Realität, die Strukturen verflüssigt, Einzelnes hypertrophiert, entspricht individuell ein steuerloser Geist, der zum ohnmächtigen Medium willkürlicher Signale verkommt.

Mit dieser Ausdrucksform schließt der "realistische Zyklus" ab. Als Kunstübung Europas in neuer Zeit hat er den Idealismus christlicher Kunst konterkariert, die Vision vom himmlischen Jerusalem. Dagegen setzten Ästhetik und Kunstpraxis seit 500 Jahren auf "Wirklichkeit" im Sinne der Erfahrung. Das 19. Jahrhundert vollendet dies "objektiv" im "bürgerlichen Realismus" und sozialkritischen "Naturalismus" und "subjektiv" im psychologischen "Impressionismus", schließlich der Technik rein subjektiven Notats. Allen gemeinsam bleibt der Wille, Mensch und Welt nur immanent zu fassen.

Schnitzler hat intensiv Teil an dieser späten Formgeschichte des "Realen". Nicht ohne Größe umspannt er objektive wie subjektive Zeichen realistischer Kunst. Konsequent und unerschrocken. Das zeigen auch die prominenten Werke des Jahres 1904, "Der einsame Weg" und "Reigen". Das erste, ein poetisches Meisterwerk, verschmilzt wichtige Motive Ibsens (Lebenslüge, asoziale Genialität, soziale Verantwortung) mit dem tragischen Einsamkeitsmotiv der "Möwe" zum ureigenen Kunstwerk Schnitzlers - auch jetzt noch viel gespielt.

Der "Reigen" geriet zum Skandal, mißverstanden bis heute. Orientiert am Totentanzschema, reihen sich zehn gleichartige Szenen wie Perlen zur Kette, jede die intime Zwiesprache eines Paars zum Inhalt. Jeder Partner tritt zweimal auf, so schlingen die Glieder den Reigen. Zieht Sinnlichkeit die Figuren an, so nicht den Autor. Sein Blick ist analytisch, nicht pornographisch. Seine Figuren agieren als soziale Typen in wechselnden Konstellationen: die Dirne, der Soldat, das "süße Mädel", der junge Herr, die Ehefrau, der Dichter, die Schauspielerin oder der Graf. Sie schreiten den sozialen Kosmos aus. Den heutigen Leser fesseln all diese Situationen, Orte, Gesten, Klischees und Projektionen, die den Reigen abgründig oder komisch verschatten; den Zeitgenossen entging dabei die mediale Funktion der Sexualität.

"Die Heimat war nur Kulisse des eigenen Schicksals"

Das Liebeleisyndrom kehrt wieder in "Das weite Land" (1911); im "Professor Bernhardi" (1912) setzt Schnitzler dem Vater ein Denkmal und verarbeitet Gegenwartsprobleme, antisemitische Anwürfe. Die Novelle "Spiel im Morgengrauen" (1926) kehrt zum Militärischen zurück, zeigt ein System des Determinismus gestaffelter Abhängigkeiten.

Alle Themen greift Schnitzler noch einmal auf in seinem Altersroman "Therese" (1928). Doch entweicht die objektive Erzählhaltung nicht mehr ins Spielerisch-Illusionäre, das "impressionistische Grundmotiv" hat allen verführerischen Glanz verloren.

So schließt sich der Kreis. Zur Lage der spätbürgerlichen Intelligenz hatte der Autor einst notiert: "Und wenn es schon keinen Gott gab (...), gab es nicht eine Heimat, aus deren Boden man Kraft und Leben sog, kein Vaterland (...), gab es nicht Geschichte, Weltgeschichte, (...), während wir durch die Zeit rasen? Freilich gab es das alles, aber die Heimat war eben nur (...) Kulisse des eigenen Schicksals; das Vaterland, ein Gebild des Zufalls, eine völlig gleichgültige, administrative Angelegenheit, - und das Weben und Walten der Geschichte drang doch nur (...) in der mißtönigen Melodie der Politik ans Ohr, der man nur ungern lauschte."

Bei starkem Zweifel und schwacher Wahrheit boten die Zerlegung des Ich, seine Erscheinungslehre und poetische Beschwörung - diesseits von Gott, Heimat, Geschichte - nur schwachen Er-satz. Solch stoisches Ausharren auf verlorenem Posten konnte die nachfolgende Generation nicht mehr überzeugen. Ob Expressionisten, ob Revolutionäre - geistigen Aufbruch, Utopie, Aktion wollten sie alle. Doch das ist eine andere Geschichte.

Foto: Arthur Schnitzler (1862-1931): Ein deutscher Tschechow


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