© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 44/06 27. Oktober 2006

Das Europa der unbeglichenen Rechnungen
Eigene Identität und gemeinsame Werte, aber auch die Überwindung historischer Altlasten sind für Europa überlebenswichtig
Klaus Motschmann

Seit dem "Nein" der Franzosen und Holländer zum Entwurf einer Europäischen Verfassung und der Absage eines geplanten Referendums in Großbritannien im vorigen Jahr ist es still geworden um den Prozeß der politischen Vereinigung Europas - verdächtig still, wie man wohl hinzufügen muß.

In den Talkshows, in den Titelbeiträgen der maßgebenden politischen Magazine, auf Partei-, Gewerkschaft- und Kirchentagen sowie bei Wahlen wird das Thema eher am Rande behandelt. Aus dieser Beobachtung sollte jedoch nicht der Schluß gezogen werden, daß damit Anzeichen für eine grundsätzliche Wende vorliegen. Davon kann keine Rede sein, wie den offiziellen Reaktionen der politischen Klasse auf das Abstimmungsdesaster in Frankreich und den Niederlanden zu entnehmen ist. Dazu ist der eurokratische Zentralismus bereits zu weit entwickelt, als daß in absehbarer Zeit noch eine grundsätzliche Umkehr auf dem bisher erfolgten Weg möglich wäre. Das bisher verfolgte Ziel wird nach wie vor angestrebt, wie unter anderem durch den Beginn der Beitrittsverhandlungen mit der Türkei nur wenige Monate später öffentlich signalisiert worden ist.

Allerdings wird es künftig auf anderen Wegen angestrebt und sicher auch mit Begründungen, die mehr Rücksicht auf die öffentliche Meinung in den europäischen Ländern erkennen lassen. Die Fortsetzung der bisherigen Politik wird unter anderem dadurch dokumentiert, daß bei Entscheidungen der nationalen Parlamente ausdrücklich betont wird, sie würden in zunehmendem Maße nur noch "Leitlinien" aus Brüssel in nationales Recht umsetzen. Jüngstes Beispiel dieser Anpassung ist das sogenannte Anti-Diskriminierungsgesetz zum Schutz bestimmter Minderheiten. An diesem Beispiel wird nicht nur veranschaulicht, wer inzwischen auch in den einzelnen Mitgliedsstaaten der EU in zunehmendem Maße die Richtlinien der Politik bestimmt, sondern auch ein offenkundiger Wandel der Werte- und Ordnungsvorstellungen in Europa dokumentiert. Es wird ein Demokratie- und Verfassungsverständnis offenbar, daß mit dem Grundgesetz immer weniger und mit dem demokratischen Zentralismus unseligen Angedenkens immer mehr zu tun hat.

Dabei ist vor allem an die öffentliche Meinung in den osteuropäischen Beitrittsländern zu denken, die noch immer (oder schon wieder?) von den Erfahrungen der Breschnew-Doktrin der "eingeschränkten nationalen Souveränität" bestimmt wird. Eine von vielen anderen Lehren, die das vorläufige Scheitern des EU-Verfassungsentwurfs vermittelt, besteht darin, daß die nationalen Traditionen sowohl in den westlichen Demokratien als auch in den ehemaligen kommunistischen Staaten Osteuropas trotz aller gegenteiligen Behauptungen noch immer zu den "Grundbedingungen politischer Gemeinschaftsbildung" gehören und deshalb nicht mißachtet werden dürfen. Das Problem der "nationalen Identität im vereinten Europa" - so das Ergebnis einer Tagung der Konrad-Adenauer-Stiftung zu diesem Thema - läßt sich nicht im Trichterkreis der Reduktion auf die bekannten sozialistischen oder kapitalistischen Dogmen lösen, sondern allein unter Beachtung der sehr unterschiedlichen Traditionen der einzelnen Länder. Ihre Beachtung bedeutet nicht Widerspruch zur Neuordnung Europas, sondern ist vielmehr eine notwendige Voraussetzung, weil der "Nationalstaat auch weiterhin als zentrales politisches Identifikationsobjekt prägend" für verantwortliches politisches und gesellschaftliches Handeln bleibt. Die überzeugenden Begründungen liefern die wissenschaftlich fundierten, informativen, nach Ländern geordneten Analysen des angezeigten Berichtsbandes der erwähnten Tagung, die eine realistische Standortbestimmung sowohl im Blick auf die Zukunft Europas als auch Deutschlands ermöglichen.

Dazu gehört allerdings auch die Besinnung auf die christlich- abendländische Tradition, ohne die Europa nicht zu denken, geschweige denn dauerhaft zu gestalten ist - es sei denn als eine zweckrationale politische, militärische oder wirtschaftliche Gemeinschaft. Unter dem Einfluß beziehungsweise der teilweise langen Herrschaft des Nationalismus und Laissez-faire-Liberalismus in Westeuropa, des Sozialismus und Kommunismus in Osteuropa, ist dieses Bewußtsein bedrohlich verkümmert. Der Streit um und schließlich der Verzicht auf einen Gottesbezug in der Präambel des EU-Verfassungsentwurfs ist nur ein Indiz neben vielen anderen für den politisch-ideologischen Trend, der auf die weitere Erosion der geistigen Fundamente Europas abzielt. Deshalb kommt es darauf an, das Bewußtsein zu beleben, daß die europäische Union in erster Linie als eine aus der christlich-abendländischen Tradition gewachsene Wertegemeinschaft konstituiert werden sollte.

Die dafür notwendigen Denkanstöße vermittelt der von Dieter Blumenwitz, Gilbert H. Gornig und Dietrich Murswiek herausgegebene Band. Er vereinigt die von den drei renommierten Staats- und Völkerrechtlern - Blumenwitz ist zwischenzeitlich (2. April 2005) verstorben (JF 16/05) - redigierten Beiträge einer Tagung der Studiengruppe Politik und Völkerrecht. Abweichend von der heute vorherrschenden Tendenz, Tatsachen auszublenden, die der veröffentlichten Meinung widersprechen, werden in diesem Band Probleme benannt, die eine wirkliche Wertegemeinschaft belasten. Dabei handelt es sich vor allem um die Weigerung Polens und der Tschechoslowakei (bzw. Tschechiens), das Unrecht an der deutschen und ungarischen Minderheit in ihren Ländern nach 1945 - Morde, Vertreibungen, Inhaftierungen, Enteignungen und andere - endlich auch als solches zu verurteilen, die Opfer zu rehabilitieren, Restitutionsansprüche zu akzeptieren und den Vertriebenen die Rückkehr in ihre Heimat zu gestatten. Man meint in einem Kompendium des Staats- und Völkerrechts zu lesen, wenn man an die schweren Verstöße gegen alle nur denkbaren Normen der Menschenrechte, des Völker- und Staatsrechts und des Kriegsrechts erinnert wird, die an Deutschen und Ungarn verübt worden sind, und zwar zur gleichen Zeit, da in Nürnberg die gleichen Verbrechen seitens der Nationalsozialisten hart verurteilt wurden. Die Berufung der Polen und Tschechen auf das sogenannte Potsdamer Abkommen ist insofern rechtlich irrelevant, als es kein Vertrag im völkerrechtlichen Sinn ist, sondern lediglich ein Konferenzbericht, in dem alle die deutschen Ostgebiete betreffenden Aussagen einem zukünftig noch zu regelnden Friedensvertrag zugeordnet wurden.

Als eine besondere Belastung der Bemühungen um eine Wertegemeinschaft muß empfunden werden, daß das tschechische Parlament im April 2002 die Beneš-Dekrete - die "rechtliche" Grundlage aller gegen die Deutschen und Ungarn gerichteten Maßnahmen - einstimmig anerkannte und damit dokumentiert hat, daß es noch nicht bereit ist, "sich von den Symbolen des dunkelsten Kapitels der tschechischen Geschichte zu lösen" (Pan/Pfeil).

Daß es sich bei diesen Hinweisen nicht um die politischen Auffassungen "revanchistischer Politiker und Funktionäre der Vertriebenenverbände" handelt, beweist die Entwicklung in Ungarn seit 1990. Um den Aufbau einer demokratischen Staats- und Gesellschaftsordnung nicht mit der Hypothek des Unrechts an den Ungarndeutschen zu belasten, hat das noch kommunistische Parlament im Frühjahr 1990 dieses Unrecht bekannt und den Angehörigen der Verstorbenen und den leidenden Überlebenden sein Mitgefühl ausgesprochen. Das Parlament sprach sich auch für eine Entschädigung aus, jedoch nur nach Maßgabe der Leistungsfähigkeit der Wirtschaft. Sehr viel wichtiger für das Zusammenleben ist die Tatsache der gemeinsamen Verantwortung für die Zukunft: "Man stellte gemeinsame Denkmäler auf, auf denen die Personen aufgezählt wurden, die leiden mußten: die Vertriebenen, die Verschleppten, die Kriegsgefallenen des Zweiten Weltkriegs, egal welcher Nationalität oder Konfession sie angehörten. Es war die Zeit, in der man Zwistigkeiten ausräumen konnte." (Wolfart) Ungarn hat damit nicht nur beispielhaft die Voraussetzungen für ein friedliches Miteinander im eigenen Staat, sondern auch für die Entwicklung einer Wertegemeinschaft in der europäischen Union geschaffen.

Günter Buchstab, Rudolf Uertz (Hrsg.): Nationale Identität im vereinten Europa. Herausgegeben im Auftrag der Konrad Adenauer-Stiftung. Herder-Verlag, Breisgau 2006, broschiert, 293 Seiten, 13 Euro

Dieter Blumenwitz, Gilbert H. Gornig, Dietrich Murswiek (Hrsg.): Die Europäische Union als Wertegemeinschaft. Duncker & Humblot, Berlin 2005, broschiert, 312 Seiten, 98 Euro

Foto: EU-Abgeordnete geben 2004 ihrer Zustimmung für den Türkei-Beitritt auch visuell Ausdruck: Keine Anzeichen für eine Umkehr


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