© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 45/06 03. November 2006

Universalpolitik ohne praktische Hoheitsrechte
Die Münsteraner Historikerin Barbara Stollberg-Rilinger versucht sich an einer kurzen Gesamtdarstellung des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation
Peter Lebitsch

Der Rechtsphilosoph Samuel Pufendorf charakterisierte 1667 das "Heilige Römische Reich deutscher Nation" als gotisches "Monstrum", nannte es eine "Mißgeburt", und der Rechtsgelehrte Johann Jakob Moser schrieb: "Teutschland wird teutsch regiert". Wer das Deutschland jener Epoche begutachtet, schwankt zwischen Entsetzen und Ratlosigkeit. Der "Flik-kenteppich" unzähliger Territorien spricht offenbar jeder Vernunft Hohn.

Barbara Stollberg-Rilinger, Historikerin an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster, beschreibt und erläutert das frühneuzeitliche Reich, seine "vormoderne Fremdartigkeit und Vielschichtigkeit". Jede "Indienstnahme" will sie meiden, gewiß ein lobenswerter Vorsatz, der sie allerdings dazu verleitet, nicht stringent zu analysieren. Ungewürzte Speisen sättigen, schmecken aber nicht immer.

Leider verschweigt die Autorin, warum das Chaos der tausend Territorien überhaupt entstand. Zumindest hätte sie die Italien- und Romzüge staufischer Kaiser erwähnen sollen, die fast alle Hoheitsrechte preisgaben, um ihre katastrophale "Universalpolitik" zu realisieren. Nationalstaatsbildung und Reichs-idee widersprachen einander.

Dem "Heiligen Römischen Reich" habe die biblische Prophezeiung Daniels zugrunde gelegen, wonach das Römerreich das letzte der Geschichte sei. Kaiser, Kurfürsten und andere Stände, sofern letztere die "Reichsstandschaft" besaßen und im Reichstag abstimmen durften, nämlich Fürsten, Grafen, Prälaten und Städte, teilten sich nebulöse, kaum greifbare, vielfältig abgestufte Souveränitätsrechte. Gleichzeitig kujonierten egozentrische Landesfürsten ihre Territorien. Das Reich, hierarchisch zerfasert, unbeweglich, ein pfadloser Dschungel, in dem absurdeste Privilegien wie Sumpfblüten wucherten, funktionierte nur, wenn Kaiser und Kurfürsten einen Konsens erzielten, der immer seltener gelang.

Formal lag die Oberhoheit in kaiserlichen Händen, obwohl zentrale Reichsämter fehlten. Auch die Habsburger regierten primär dynastische Erblande. Im Grunde war das "Reich" ein Personenverband, aber kein Staat. Dieses archaisch-sinnlose Wirrwarr hält die Autorin für "komplex". Sie nennt das Kind nicht beim Namen. Deutsche Zustände mündeten in Willkür und Tyrannei, lähmten die politische Öffentlichkeit und ermöglichten den grausigen Dreißigjährigen Krieg.

Neuerungen wie der gemeine Pfennig, Reichskreise, Kammergericht und Reichsregiment versandeten oder stärkten partikulare Gewalten. "Konflikte wurden zunehmend rechtsförmig ausgetragen", Mißstände konserviert, Staatskunst durch Gerichtsbeschlüsse ersetzt, die politische Kultur verunstaltet. Auch gab es kein stehendes Reichsheer. Nicht nur deutsche Fürsten verantworteten zahllose Kriege. Karl V. und Ferdinand II. hätten religionspolitische Zwiste lindern und die deutsche Königsmacht stärken können. Aber sie wahrten nicht das gesamtdeutsche Interesse, sondern vertraten katholisch-universale Ansprüche. Das Reich stand sich selbst im Weg; es war aufgrund seiner eigenen Prämissen reform- und politikunfähig. Die Autorin interpretiert viel zu wenig. Der preußisch-österreichische Gegensatz des 18. Jahrhunderts lähmte vollends die kaum noch existente Reichsverfassung. 1806 beerdigte Kaiser Franz II./I. auf Druck Napoleons den längst gestorbenen Koloß nur noch.

Stollberg-Rilinger sieht im alten Reich einen "Friedens-, Leistungs- und Rechtsverband". Letztlich verfehlt sie die Wirklichkeit. Das amorphe, schwache Reich unterband weder Bürgerkriege noch Invasionen und verhinderte eine gesamtdeutsche Staatsbildung. Die "transzendentale" Reichsidee zerstörte das reale Leben der Deutschen.

Barbara Stollberg-Rilinger: Das Heilige Römische Reich Deutscher Nation. Vom Ende des Mittelalters bis 1806, Verlag C. H. Beck, München 2006, 133 Seiten, 7, 90 Euro


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